Von Veränderungserschöpfung zu Ressentiment: Emotionale Reaktionen auf beschleunigten sozialen Wandel
Katja Schmidt
Humboldt-Universität zu Berlin, Deutschland
Gesellschaftlicher Wandel verläuft zunehmend schnell, vielschichtig und konflikthaft – sei es durch Digitalisierung, Klimakrise, Migration oder ökonomische Transformationen. Während einige Gruppen solchen Entwicklungen mit Offenheit oder Zuversicht begegnen, zeigt sich bei anderen eine wachsende Veränderungserschöpfung. Diese Erschöpfung ist nicht bloß ein Zustand verminderter kognitiver oder körperlicher Belastbarkeit, sondern geht mit spezifischen emotionalen Deutungsmustern gesellschaftlicher Transformation einher (Mau et al 2023). In meinem Beitrag untersuche ich, wie sich diese Veränderungserschöpfung in Form von Ressentiments artikuliert – einem Gefühlskomplex, der durch Groll, Opfernarrative und eine Fixierung auf verlorene Anerkennung gekennzeichnet ist (u.a. Illouz 2023; Fleury 2023).
Ressentiments können als emotionale Reaktion auf subjektiv erfahrene Unsichtbarkeit, abgewiesene Ansprüche und enttäuschte Erwartungen verstanden werden. So verengen sie nicht nur den Blick auf gesellschaftliche Prozesse, sondern gehen häufig mit einem Bedürfnis nach Vergeltung einher. Dabei verschiebt sich der Fokus von konkreten Problemlagen hin zu diffusen Schuldzuschreibungen, während Verantwortung und Lösungssuche abgelehnt werden. Ressentiments werden so selbst zu einem politischen Phänomen.
Die Argumentation stützt sich auf neue, im Januar 2025 erhobene Umfragedaten aus Deutschland, die unterschiedliche Wahrnehmungen gesellschaftlicher Veränderungen sowie damit verbundene Gefühlslagen, insbesondere Ressentiments, erfassen. Der Beitrag liefert erstmals empirische Befunde zur Verbreitung von Ressentiments in der deutschen Gesellschaft und zeigt auf, welche Bevölkerungsgruppen besonders davon betroffen sind. Dabei wird deutlich, dass wahrgenommene Veränderungserschöpfung in einem engen Zusammenhang mit Ressentiments steht. Zudem bestätigt sich ein bislang vorwiegend theoretisch diskutierter Zusammenhang (vgl. Salmela & von Scheve 2017, 2018): Ressentiments korrelieren stark mit der Wahl der rechtspopulistischen AfD.
Ungleiche Gefühle und affektive Chancengleichheit: Die reflexive Auseinandersetzung mit Körpergefühlen als Fall gegenwärtiger Emotionalisierungsprozesse
Nina Sökefeld
Universität Hamburg
Gegenwartstypische Phänomene wie ‚Body Positivity‘, diskriminierungskritischer Körperaktivismus oder Coaching-Ansätze, die auf ein ‚ganzheitliches‘ Selbst abzielen, teilen das Anliegen, körperbezogene Emotionen bewusst zu navigieren, um Körper und Gefühl positiv in Einklang zu bringen. Solche Praktiken und Diskurse lassen sich zunächst als beispielhafte Ausprägungen gesellschaftlicher Prozesse der Therapeutisierung verstehen, mit denen eine auf Selbsttechniken beruhende Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen zur Aufgabe jeder und jedes Einzelnen wird. Auf der Grundlage ethnographischer Forschung bei Veranstaltungen, in denen Teilnehmende gezielt daran arbeiten, sich im eigenen Körper ‚gut‘ zu fühlen, zeige ich, dass sich das Ziel der Herstellung positiver körperbezogener Emotionen jedoch nicht in der therapeutischen Herangehensweise an einzelne Subjekte erschöpft. Gefühle werden in den beforschten Kontexten nämlich vielfach in Hinblick auf ihre Funktion im Gefüge gesellschaftlicher Strukturen und Veränderungsprozesse dekonstruiert. Negative, körperbezogene Emotionen wie Scham oder Ekel werden dabei als Ergebnis der gesellschaftlichen Bewertung und Klassifikation von Körpern sowie spätmoderner Gestaltungsanforderungen der Selbstoptimierung gedeutet. Solche Ideale der körperlichen Selbstgestaltung gelten dabei nicht als emanzipatorisch, sondern als Instrument der affektiven Beherrschung von Körpern. In den untersuchten Praktiken und Diskursen offenbart sich somit auch ein gesellschaftspolitischer Anspruch, der positive Emotionen als ungleich verteilte Ressource begreift und danach strebt, einen Wandel anzustoßen, mit dem es ‚allen‘ gleichermaßen möglich werden soll, sich ‚gut‘ zu fühlen. Diese normative Überzeugung, dass positive Emotionen ‚allen‘ gleichermaßen zustehen (sollten), lässt sich als Ausprägung einer gesellschaftlichen Entwicklung betrachten, mit der Gefühle zunehmend aufgewertet und zugleich als subjektive Ressource und beeinflussbare Größe wahrgenommen werden. Emotionen, so wird deutlich, dienen damit nicht nur als Deutungsmuster gesellschaftlichen Wandels und werden als Anstoß oder Folge von Konflikten verhandelt. Sie werden im Zuge reflexiver Praktiken und Diskurse selbst zu einem Gut, auf das sich – im Sinne einer angestrebten, ‚affektiven Chancengleichheit‘ – normative Gleichheits- und Verteilungsansprüche richten.
Psychotherapie im Krieg: Zwischen emotionaler Selbstsorge und staatlicher Kontrolle
Polina Aronson
Independent researcher, Deutschland
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 steht Psychotherapie in Russland an einer Schnittstelle: zwischen individueller Selbstfürsorge und staatlich regulierter Anpassung. Für eine urbane, gebildete Mittelschicht, die in den letzten Jahren eine affektzentrierte Sprache übernommen hat, ist emotionale Stabilität zu einem zentralen Wert geworden. Psychotherapie wird dabei nicht als Strategie des physischen Überlebens verstanden, sondern als Mittel des emotionalen Durchhaltens in einer Situation kollektiver Ohnmacht und Desorientierung.
Gleichzeitig lässt sich eine politisch gesteuerte Dynamik beobachten, die Gefühle systematisch unterdrückt. Das Konzept des Unfeeling – entwickelt im SFB 1171 „Affective Societies“ – beschreibt diesen Prozess der affektiven Dämpfung als Reaktion auf gesellschaftliche Umbrüche. In Russland wird Unfeeling nicht nur individuell vollzogen, sondern auch staatlich gefördert: durch Repressionen, affektpolitische Gesetze und die Pathologisierung „negativer“ Emotionen.
In diesem Kontext treten Psycholog:innen zunehmend als öffentlich sichtbare Akteur:innen auf – besonders im digitalen Raum. Viele positionieren sich explizit zu Krieg, Angst und Verantwortung, andere vermeiden klare Aussagen. Ihre Äußerungen erzeugen emotionale Resonanzen und machen deutlich: Emotionen selbst fungieren als Deutungsmuster gesellschaftlicher Transition – sie markieren Zugehörigkeit, Abgrenzung und politische Haltung.
Der Beitrag basiert auf zwei Interviewserien mit Therapeut:innen und Klient:innen (2022 und 2024) und fragt danach, wie therapeutische Räume und öffentlich geteilte Psychologie im Ausnahmezustand affektive Deutungsmuster hervorbringen – zwischen Rückzug, Selbstsorge, Polarisierung und ideologischer Befriedung.
Affektive Transition des Selbst. Die Gefühlskultur der Besinnlichkeit als Antwort auf die Krisen der Gegenwart.
Veronika Zink
Martin-Luther-Universität Halle (Saale), Deutschland
»Times seem particularly turbulent – the high-frequency bickering of social media; each day a Trumpism [...]; a period of rationing and an austerity drive; […] the limitless exhaustion of ourselves and the planet«. Dieser Auszug aus The Joy of Small Pleasures steht paradigmatisch für kontemporäre Lebensratgeber, die die Krisis-Diagnose zum Ausgangspunkt einer (kritischen) Subjektbildung machen. Ratgeber übersetzen in diesem Zuge systemische Krisen in die Alltagswelt: Sie integrieren diese spürbar in die Lebenswelt (als potentiell erfahrbarer Horizont der individuellen Lebensführung) und formieren über die Proklamation von Bewältigungspraktiken Vorstellungen von krisenresilienten Menschen. Emotionen und Affekte, so eine zentrale Annahme, werden in zweifacher Weise bei der Krisentranslation von Ratgebern wirksam: Zum einen werden Affekte als lebensweltliche Seismographen schwelender Krisendynamiken inzensiert. Zum anderen überantwortet die emotional-sinnliche Transition des Selbst die so formierte Krisenerfahrung wie auch die Frage nach der Notwendigkeit gesellschaftlicher Transformation.
Diese sozialtheoretischen Überlegungen möchte ich im Vortrag empirisch illustrieren und für die Gegenwartsdiagnose fruchtbar machen. Grundlage bildet ein gouvernementalitätsanalytisches Studium von Lebensratgeber, die den globalen Notlagen die kleinen Freuden des einfachen Lebens entgegenhalten. Ziel des Vortrags ist es, hier nach der Funktion und Bedeutung von Emotionen für die gegenwartskulturelle Krisensteuerung zu fragen. Konkret wird darzulegen sein, dass die multiplen Krisen der Gegenwart im Material unter dem Vorzeichen einer affektiven Überstrapazierung von Welt gedeutet werden, d.h. ihrer ökologischen Erschöpfung und sozio-emotionalen Pauperisierung. Die Ratgeber prononcieren so eine Krisis-Deutung, die sich als eine Kritik am Spätkapitalismus gibt, und profilieren als korrektive Gegenideologie eine imperative Gefühlskultur, die nach besinnender Eigentlichkeit, sinnlichem Resonanzerfahren und genüsslicher Sinnerfüllung drängt. Im Resultat scheinen gegenwärtige Subjektvorstellungen von einer Gefühlskultur der Besinnlichkeit geprägt, die vom sublimen Zauber der Behaglichkeit getragen wird, und die, so meine These, ebenso konstitutiv für eine postbürgerliche Anthropologie ist wie sie die Subjektivierung der Gesellschaftskritik informiert.
Das (Un-)Authentische als Knotenpunkt emotional-sozialer Dynamiken
Manuela Beyer
Hannah-Arendt Institut an der TU Dresden, Deutschland
Gesellschaftliche Transformationen und emotionale Dynamiken sind eng verknüpft, wobei Emotionen und Affekte sowohl Triebkräfte als auch Folgen sozialen Wandels darstellen. In der soziologischen Auseinandersetzung mit Prozessen emotional-sozialen Wandels dominieren derzeit zwei Perspektiven. Erstens wird unter Stichworten wie ‚Emotionalisierung‘ oder ‚Affizierung‘ allgemein eine verstärkte Sichtbarkeit, Valorisierung und Zirkulation von Emotionen und Affekten im Sozialen konstatiert (Reckwitz 2017). Zweitens fokussieren gesellschaftsdiagnostische Arbeiten auf Konjunkturen spezifischer Emotionen – etwa Liebe, Glück oder Angst –, die als gegenwärtig besonders prägend oder valorisiert beschrieben werden. Mitunter avancieren diskrete Emotionen zur Signatur ganzer Gesellschaften – etwa in Diagnosen wie der „Gesellschaft der Angst“ (Bude 2016).
Beide Perspektiven eröffnen wichtige Einsichten, tendieren jedoch dazu, Wandel vor allem als
Zunahme oder Intensivierung emotionaler Prozesse zu beschreiben. Dabei geraten leicht Entwicklungen aus dem Blick, die sich jenseits von Diagnosen einer Zu- oder Abnahme affektiven Erlebens oder emotionaler Expressivität bewegen. Mein Beitrag setzt hier an: Er fordert dazu auf, das Augenmerk stärker auf qualitative Verschiebungen zu legen, die sich nicht in Begriffe eines ‚mehr‘ oder ‚weniger‘ an Emotion fassen lassen, aber dennoch gesellschaftlich von höchster Relevanz sind. Konkret schlage ich vor, Deutungskämpfe um die Authentizität bestimmter Emotionen als Schlüsselprozesse sozialer Transitionen zu begreifen. So lassen sich die gegenwärtigen Erfolge von rechtsaußen Parteien und Bewegungen weltweit nicht allein auf einen ‚emotionalisierten‘ Politikstil zurückführen. Vielmehr bedarf es einer Analyse des diskursiven Ringens um das richtige bzw. authentische Fühlen von Politiker:innen und Wählenden. Rechte Akteur:innen reklamieren legitime Emotionen wie Angst als authentisches Gefühl für sich, während sie andere Gefühle – etwa Hass oder Verachtung – abwehren oder politischen Gegner:innen zuschreiben. Die erfolgreiche Behauptung bestimmter Emotionen als
authentisch erweist sich dabei als zentral für die Durchsetzung in Deutungs- und Machtkämpfen – und wirkt entscheidend auf Richtung und Tempo sozialen Wandels.
Emotionalisierung meets Digitalisierung: Mood Tracking als Verdichtungssymbol der Emotionskultur der Gegenwart
Sarah Miriam Pritz
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland
Gefühle werden in spätmodernen Gesellschaften ebenso wertgeschätzt wie in Wert gesetzt. Ein Phänomen, in dem sich die gewandelte Kulturbedeutung von Emotionen und Versuche des Verfügbarmachens von Affektivität auf geradezu paradigmatische Weise verdichten, sind Technologien emotionaler Selbstvermessung. In der digitalen (Selbst-)Vermessung der Gefühle trifft die zunehmende gesellschaftliche Emotionalisierung auf eine sich kontinuierlich ausweitende Digitalisierung der individuellen Lebensführung. Im sogenannten Mood Tracking soll die eigene Gefühlswelt mithilfe mobiler Programmanwendungen (und externer Sensoren) sowohl umfassend dokumentiert und analysiert als auch zielgerichtet modifiziert und modelliert werden können. Bei Mood Tracking-Apps handelt es sich also einerseits um einen besonderen Typus von Self-Tracking-Anwendungen vor dem Hintergrund einer allgemeinen Kultur digitaler Selbsthilfe. Gleichzeitig gehören Mood Tracking-Apps als Gefühlstechniken im doppelten Wortsinn dem breiten Feld kultureller Programme an, welche das Subjekt im Spannungsfeld von Selbstsorge und Selbstoptimierung adressieren. Der Vortrag wird drei emotionskulturelle Entwicklungslinien herausarbeiten, die in besonders eindrücklicher Weise im Mood Tracking als einem Verdichtungssymbol der Emotionskultur der Gegenwart manifest werden und pointiert als Expertisierung, Optimierung und Technisierung von Gefühlen gefasst werden können.
Reichtum reproduzieren – Die Emotionalisierung von Vermögen und Verwandtschaft
Franziska Wiest
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Deutschland
Vor dem Hintergrund wachsender Vermögensungleichheit in Deutschland beschäftigt sich die Soziologie zunehmend mit der Frage, welche Rolle die Familie als ökonomische Institution spielt, über welche Vermögen intergenerational weitergegeben wird. Die mediale Darstellung von Reichtum ist geprägt vom Bild emotional kalter Familienbeziehungen, in denen sich das Vermögen destruktiv auf die sozialen Beziehungen auswirkt. Dieses Deutungsmuster findet sich auch in klassischen Gesellschaftstheorien, in denen die instrumentelle Logik der Ökonomie die Lebenswelt der Familie als Ort der Fürsorge ‚kolonialisiert‘. Die Emotionssoziologie stellt heraus, dass wirtschaftliches Handeln in der Postmoderne emotionalisiert wird sowie spezifische Emotionsnormen und -management voraussetzt. Vor diesem Hintergrund untersuchte ich anhand von 33 narrativen Interviews mit Mitgliedern aus superreichen Familien in Deutschland, wie affektive Dynamiken, Konflikte und emotionale Praktiken die Reproduktion von Vermögen beeinflussen. Durch die Rekonstruktion ihrer Familienvermögensgeschichten zeige ich, wie familiale Wandlungsprozesse und die Restrukturierung von Vermögen den Umgang mit Emotionen verändern. In den vergangenen Jahrzehnten fanden weitreichende Transitionen in der Struktur, Bearbeitung und Funktion emotionaler Beziehungen in superreichen Familien statt: Das Ideal der patriarchalen Alleinherrschaft wurde zunehmend vom Ideal einer kollektiven Herrschaft der Familie abgelöst, in denen emotionale Bindungen nicht nur familiale Kohäsion erzeugen sollen, sondern selbst zur ökonomischen Ressource werden. Die gezielte Herstellung von Nähe, Intimität und Zugehörigkeit zwischen weitverzweigten Familienmitgliedern durch professionell geleitete „Familienstrategieprozesse“ dient damit nicht nur der affektiven Integration, sondern auch der Sicherung des Vermögens. Diese Emotionalisierung familialer Vermögensbeziehungen wirkt jedoch über die Familie hinaus, da sie zugleich von Fragen sozialer Ungleichheit ablenkt. In meinem Vortrag gehe ich vertiefend auf Praktiken emotionaler Beziehungsarbeit ein, die zu zentralen Steuerungsmechanismen der Reproduktion von Vermögen wurden. Besonderes Augenmerk lege ich auf die Rolle professioneller Intermediäre, welche emotionale Reflexivität systematisch als Mittel des Vermögenserhalt fördern und zur Stabilisierung familialer Vermögensordnungen beitragen.
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