Veranstaltungsprogramm

Sitzung
AdH26: Eine Verschiebung von Sagbarkeitsgrenzen? Über die soziologische Einordnung diskursiver Transitionsdiagnosen
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Floris Biskamp, Universität Tübingen
Chair der Sitzung: Hannah Hecker, Universität Tübingen
Chair der Sitzung: Julia Glathe, Universität Tübingen
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

Die Verschiebung von Sagbarkeitsgrenzen als Gegenstand empirischer Forschung

Hannah Hecker, Floris Biskamp, Julia Glathe

Universität Tübingen, Deutschland

In der Öffentlichkeit zirkulieren zwei gegensätzliche Diagnosen über eine „Verschiebung von Sagbarkeitsgrenzen“. Auf der einen Seite wird behauptet, die Grenzen des Diskurses würden immer lockerer; Äußerungen die früher als rassistisch, sexistisch usw. ausgeschlossen gewesen seien, könnten heute immer freier geäußert werden, sodass sich der Diskurs insgesamt nach rechts verschiebe. Auf der anderen Seite wird behauptet, die Grenzen des Diskurses würden immer strenger und enger; Äußerungen die früher Teil des Mainstreams gewesen seien, würden heute als rassistisch oder rechtsextrem stigmatisiert und aus dem Diskurs ausgeschlossen. Obwohl diese gegensätzlichen Diagnosen intensiv diskutiert werden, fehlt es bislang an systematischen Langzeitstudien, die die Entwicklung von Sagbarkeitsgrenzen empirisch untersuchen. Das DFG-Projekt „Die Aushandlung von Sagbarkeitsgrenzen in politischen Diskursen“ nimmt eine solche Untersuchung vor. Im Vortrag werden die methodologische Anlage des Projekts sowie erste Ergebnisse vorgestellt.



„Meinungsäußerung ist nicht mehr zulässig in Deutschland“. Wie verhandeln AfD-Wähler:innen in ideologisch heterogenen Diskussionsgruppen die „Grenzen des Sagbaren“?

Alice Barth1, Florian Fastenrath2

1Universität Bonn, Deutschland; 2Universität Duisburg-Essen, Deutschland

Viele AfD-Wähler:innen eint das Gefühl, ihre Meinung in der Öffentlichkeit nicht mehr frei äußern zu dürfen. Diese empfundene Einschränkung – häufig als „Meinungsdiktatur“ oder „politische Korrektheit“ beschrieben – verweist darauf, dass sie ihre politischen Haltungen außerhalb des gesellschaftlich akzeptierten Meinungsspektrums verorten und bei deren Äußerung negative Konsequenzen wie moralische Verurteilung oder soziale Ausgrenzung befürchten.

Der Vortrag thematisiert, wie derartige „Grenzen des Sagbaren“ im direkten Austausch verhandelt werden, wenn AfD-Wähler:innen mit ihnen unbekannten Gesprächspartner:innen aktuelle politische Themen erörtern. Anhand von Daten aus 22 Fokusgruppen-Diskussionen in sechs deutschen Städten im März 2025, in denen jeweils ein bis vier (von neun) Personen angaben, die AfD gewählt zu haben, untersuchen wir die ideologische Positionierung von AfD-Wähler:innen und ihre diskursiven Verhaltensmuster. Welche Meinungen werden als artikulierbar empfunden, welche bleiben unausgesprochen – und wie steht dies in Zusammenhang mit der Komposition der Fokusgruppe und Gesprächsdynamiken?

Diskutiert wurden drei aktuelle Themenfelder (Umweltpolitik, Gleichstellung, und Umverteilungs- bzw. Steuerpolitik), zu denen jeweils klare Positionen im AfD-Parteiprogramm vorliegen. Wir analysieren, unter welchen Umständen AfD-Sympathisant:innen diese Parteipositionen offen vorbringen, und wie andere Teilnehmer:innen reagieren. Die „öffentlichen“ Äußerungen in den Gruppen werden mit standardisierten Vor- und Nachbefragungen trianguliert, um zu prüfen, ob Positionen je nach Befragungsmodus als unterschiedlich „sagbar“ wahrgenommen werden.

Wir stellen fest, dass Meinungsäußerungen von AfD-Wähler:innen – entgegen ihrer Erwartungshaltung– in den Gruppen selten offensiv angegriffen oder moralisch sanktioniert werden, sondern verschiedene Strategien der kommunikativen Konsensfindung zur Anwendung kommen. Statt konfrontativer Zurückweisung beobachten wir häufig Formen indirekter Anschlusskommunikation oder thematische Umdeutungen, die es ermöglichen, Differenzen zu überbrücken und das Gespräch aufrechtzuerhalten.

Unsere Studie bietet einen dichten, dialogischen Zugang, der abseits von der Rhetorik der Parteieliten einen differenzierten Blick darauf ermöglicht, was unter welchen Umständen als „sagbar“ empfunden wird.



Zu dem, was nicht mehr gesagt wird: Migrationsdebatten zwischen Islamismus und der Normalisierung rechter Diskurse?

Anna-Maria Meuth, Sabrina Zajak

DeZIM Institut, Deutschland

Islamfeindliche Bewegungen deuten bestimmte Migrationsprozesse gezielt als Bedrohung und machen kulturelle sowie religiöse Differenzen für gesellschaftliche Konflikte verantwortlich. Unser Beitrag untersucht, welche Narrative über Migration in einer globalisierten Welt – besonders im Kontext terroristischer Ereignisse – entstehen und inwieweit diese islamfeindliche Deutungsmuster reproduzieren oder in den medialen Mainstream einsickern.

Dazu analysieren wir die Berichterstattung zu Islam und Muslim:innen in der deutschen (SZ, FAZ) und britischen Qualitätspresse (The Guardian, The Times) zwischen 2000 und 2020. Zwei zentrale Ereignisse – die Anschläge auf Charlie Hebdo und das Bataclan 2015 – werden dabei qualitativ untersucht.

Unsere Analyse zeigt: Nach dem Charlie-Hebdo-Anschlag bleiben Islam- und Migrationsdebatte zunächst getrennt. Nach dem Bataclan-Angriff hingegen verschränken sich beide Diskurse deutlich. Auffällig ist der Verlust menschenrechtsbezogener Argumentationen, die in der zweiten Debatte fast völlig fehlen. Die Gründe für diesen Wandel werden qualitativ erörtert.

Abschließend interpretieren wir diese Diskursverschiebungen als Ausdruck eines „radikalisierten Mainstreams“: Islamfeindliche und rassifizierende Narrative gelangen in den öffentlichen Diskurs, ohne klar benannt zu werden, während differenzierende, migrationsfreundliche Positionen zunehmend verschwinden. So verändert sich nicht nur das Sagbare, sondern auch das öffentlich Nicht-Gesagte – ein Hinweis auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Diese Leerstelle bleibt in der bisherigen Forschung unterbeleuchtet.



Die Grenzen des Sagbaren in Migrationsdiskursen: Transitionen selektiver Solidarität in Deutschland und England

Ruth Manstetten

Goethe Universität Frankfurt, Deutschland

Diskurse über Flucht und Migration sind oft sensible Orte gesellschaftlicher Aushandlungen des Sagbaren, da sie Fragen nach Zugehörigkeit, politischer Moral und Grenzen der Solidarität berühren. Gerade hier lassen sich daher exemplarisch Verschiebungen von Sagbarkeitsgrenzen beobachten: Klassifizierungen, affektive Codierungen, selektive historische Bezüge und symbolische Grenzziehungen (z.B. entlang rassifizierter Kategorien oder nationaler Selbstbilder) strukturieren dabei den Raum des Sagbaren und Legitimen.

Der Beitrag basiert auf einem Projekt, in dem unter Rückgriff auf den ‚boundary approach‘ (Lamont) Artikel zu Flucht und Migration aus sechs Tageszeitungen aus Deutschland und England diskursanalytisch untersucht wurden. Um die Transitionen von Sagbarkeitsgrenzen in den letzten 10 Jahren zu rekonstruieren, wurden zwei Vergleichshorizonte gewählt: Auf zeitlicher Ebene zeigt der Beitrag wie sich diskursive Muster zwischen dem ‚langen Sommer der Migration‘ 2015/16 und der Fluchtbewegung aus der Ukraine seit 2022 verändert haben. Auf räumlicher Ebene werden deutsche und britische Diskurse verglichen, um zu verstehen inwiefern die Verhandlungen ums Sagbare nationalen Eigenlogiken unterliegen.

Im Zentrum der Analyse stehen dabei zwei diskursive Modi und ihre Transformationen: (1) Hierarchisierende Grenzziehungen, die Geflüchtete beispielsweise in „würdige“ und „unwürdige“ Hilfeempfänger:innen unterteilen und bestimmen, mit wem Solidarität gefordert wird und wem sie verweigert werden soll. Sowie (2) identifikatorische Grenzziehungen, die auf kollektiven gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen – etwa als offene Gesellschaft, überforderte Nation oder moralisch verpflichtetes Europa – beruhen. Die Analyse zeigt auf, wie diese Grenzziehungen jeweils affektiv gerahmt sind und mit historischen und geographischen Bezugnahmen verwoben sind. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass sich Sagbarkeitsgrenzen nicht nur durch offensive Sprachverschiebungen, sondern auch durch affektive und moralische Rekonfigurationen sowie Formen des selektiven Sprechens konstituieren. Damit untersucht der Beitrag nicht nur Sagbarkeitsverschiebungen in den letzten Jahren in zwei nationalen Öffentlichkeiten, sondern gibt auch einen Einblick in die Verhandlung gesellschaftlicher Selbstdiagnosen, die in Migrationsdiskursen medial vermittelt werden.



Kleiner Grenzverkehr des Sagbaren: Verschwörungstheoriekommunikation als Enthüllungsperformance

Nils Christian Kumkar1, Newal Yalcin2

1Universität Bremen, Deutschland; 2Universität Frankfurt, Deutschland

In den vergangenen Jahren sind nicht nur insgesamt die „Grenzen des Sagbaren“ verstärkt thematisiert worden, ohne dass sich die dabei immer wieder unterstellte Verschiebung dieser Grenzen empirisch eindeutig zeigen würde. In durchaus vergleichbarer Weise sind auch Verschwörungstheorien zu einem zentralen Thema öffentlicher Sorge avanciert, ohne dass sich empirisch eine eindeutige Zunahme des Glaubens an Verschwörungstheorien dingfest machen ließe.

Der Beitrag geht auf Basis unserer ethnographische Forschung im Rahmen eines Projekts zur Rekonstruktion der Produktion verschwörungstheoretischen Wissens im deutschsprachigen Raum der Vermutung theoretisch nach, dass zwischen diesen beiden Phänomenen ein Zusammenhang besteht: Verschwörungstheoriekommunikation – also sowohl die Kommunikation von als auch die Kommunikation über Verschwörungstheorien – erweist sich aus dieser Warte als diskursiv äußerst fruchtbares Spiel mit dem Verdacht tabuisierten Wissens, das dieses Tabu performativ aufrichtet und damit dem so vermeintlich verborgenen Wissen politische Bedeutung und Nachrichtenwert zuweist. Diese, in ihrer Form z.B. mit Formen des Investigativjournalismus durchaus vergleichbaren „Enthüllungsperformances“ konstituieren Gemeinschaften der Eingeweihten in Abgrenzung von den Unwissenden und erlauben zugleich Verschwörungstheorieunternehmer:innen, sich in als Händler:innen kostbarer (weil knapper) Wissensbestände zu präsentieren, selbst wenn das so in Szene gesetzte Geheimnis oft nicht mehr als eine Wissensunterstellung ist. Was hinter der Grenze liegt, tritt, in anderen Worten, thematisch dahinter zurück, dass es die Grenze überhaupt gibt.

Damit leistet der Beitrag zur Theoretisierung der Eigenlogik der politischen Kommunikation über Grenzen des Sagbaren, die als durchaus einträglicher „kleiner Grenzverkehr“ in demokratischen Öffentlichkeiten auch dann eskalieren kann, wenn eine einfache Verschiebung dieser Grenzen nicht so ohne weiteres festgehalten werden kann.