Veranstaltungsprogramm

Sitzung
AdH22: Digitale Diskurstransitionen und algorithmische Macht/Wissen-Regime. Analysen zur digitalen Umordnung der Diskurse
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Reiner Keller, Universität Augsburg
Chair der Sitzung: Lilli Alexa Braunisch, TU Berlin
Chair der Sitzung: Miira Hill, Universität Bremen
Chair der Sitzung: Amira Malik, Universität Augsburg
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

More data - more interpretation? Zur interpretativen Diskursanalytik des Quantitativen

Lilli Alexa Braunisch

TU Berlin, Deutschland

Wie lassen sich quantitative, computergestützte Daten diskursanalytisch interpretativ deuten? Dies ist eine der zentralen Fragen des hier vorgeschlagenen Beitrages. Der Umgang mit „Big Data“, verstanden als händisch nicht analysierbare Massendaten, stellt die interpretative Diskursforschung spätestens seit der Digitalisierung vor besondere Herausforderungen. Zugleich schafft sie neue Möglichkeiten für diskursanalytische Erkenntnisinteressen, wie etwa für die Analyse umfassender Diskurszeiträume, komplexer Formationsdynamiken oder langfristig gewachsener Macht- und Wissenspolitiken. Einhergehend mit der Digitalisierung liegen zum einen mehr Datenmengen und andere Datenformate vor; zum anderen gibt es - vor allem durch das Internet, neue Kommunikationsplattformen, digitale Medientechnologien wie GPS oder Nachrichtenkommunikationen - vermehrt genuin digitale Daten. Für die Analyse gegenwärtiger Diskursphänomene wird der Umgang mit großen digitalen Datenmengen folglich unumgänglich. Eine dafür notwendige quantitative Analyseweise ist aber weder methodisch noch methodologisch oder theoretisch fundiert ausgearbeitet und rückt die Frage der Interpretativität in ein neues Licht: Wie kann eine Wissenssoziologische (oder andere interpretativ rekonstruierende) Diskursanalyse ein computergestütztes quantitatives Analyseverfahren nutzen, ohne eine qualitativ fundierte Interpretationsfähigkeit zu verlieren? Inwieweit ist Interpretation hierbei überhaupt möglich, um an den Gehalt tieferliegender Bedeutung vorzudringen? Wie ist es möglich, quantitatives Vorgehen im Prozess der interpretativen Forschung transparent und für sich und Andere nachvollziehbar zu machen? Welchen Einfluss auf den Forschungsprozess haben die in den Softwares eingeschriebenen Implikationen?

Der Beitrag plädiert für eine Ausarbeitung theoretischer Prämissen für die Nutzbarkeit quantitativer Analysetools in der interpretativen Diskursforschung, denn mehr Daten brauchen mehr Methodologie und Theorie für eine entsprechende Interpretationsarbeit. Dies ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die zur Hand genommenen Analysetools nicht nur eine „ausführende rechte Hand“ sind, sondern ebenso ein mitkonstruierendes Element der diskursiven Re-Konstruktion von Wirklichkeit.



Dateninterviews: Brücke zwischen computergestützter und interpretativer Forschung

Miira Hill

Universität Bremen, Deutschland

LLM-Modelle verändern die Autorenschaft grundlegend und verlagern den von Barthes in den sechziger Jahren konstatierten Tod des Autors zunehmend in technische Systeme (Coeckelbergh & Gunkel 2024). In Anschluss an Foucault ist der Autor seither keine transzendente Quelle der Bedeutung mehr, sondern eine historisch und kulturell variable Funktion innerhalb spezifischer Diskursformationen. Die digitale Reorganisation gesellschaftlicher Diskurse führt zu tiefgreifenden Verschiebungen in den epistemischen und institutionellen Strukturen öffentlicher Kommunikation. Plattformen wirken hier als diskursive Ordnungsinstanzen, die Sichtbarkeit regulieren, semantische Kontexte rekonfigurieren und neue Formen wahrscheinlichkeitsorientierter Kommunikation hervorbringen. Wir haben es mit neuen Technologien zu tun, die IT-Unternehmen in privilegierte Lagen versetzen. Die für die Soziologie so wichtige öffentliche Debatte findet zunehmend digital statt, wodurch Unmengen an Daten entstehen. Im Zuge dieser Transformationen geraten etablierte methodische Zugänge der Sozialforschung unter Anpassungsdruck: Während interpretative Ansätze unverzichtbar bleiben, bieten LLM-gestützte Werkzeuge neuartige analytische Zugänge zu umfangreichen Textkorpora. Diese Analysen machen große Datenmengen handhabbar und fruchtbar für eine diskursanalytische Perspektive. Der Beitrag schlägt mit dem Konzept des „Dateninterviews“ ein integratives Mixed-Methods-Vorgehen vor (Hill und Puschmann 2025). Dieses kombiniert qualitative Analysen mit Retrieval-Augmented Generation (RAG) (Lewis et al. 2020). Der Beitrag möchte einen informierten Impuls zur Weiterentwicklung diskursanalytischer Zugänge im digitalen Zeitalter liefern und dazu einladen, algorithmische Regime nicht nur als Untersuchungsgegenstand, sondern auch als methodologische Herausforderung für die Soziologie kritisch zu reflektieren.



Diskursive Hegemonien im Wandel: Mit Argument Mining auf den Spuren des Atomenergie-Diskurses auf Twitter

Cornelia Fedtke1, Gregor Wiedemann2

1Helmut-Schmidt Universität, Deutschland; 2Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut

Neue Verfahren der Textanalyse mit großen Sprachmodellen (LLMs) erlauben es, nicht nur einzelne Worte, sondern auch komplexe Argumentstrukturen im jeweiligen Kontext zu erfassen. Die Methode des aspect-based Argument Mining (ABAM) gliedert sich in drei Schritte: eine Textklassifikation themenbezogener Standpunkte (pro/kontra), ein Sequenz-Tagging zur Identifikation wertebezogener Begründungen und die Erkennung dominanter Argumentationsmuster. Am Beispiel des Twitterdiskurses zu Atomenergie (2010–2022, ca. 2 Mio. deutschsprachige Tweets) zeigen wir, welches Potenzial das ABAM zur Diskursanalyse bietet.

Wir stellen drei Analyseansätze vor:

(1) Die longitudinale Analyse zeigt eine doppelte Verschiebung dominanter Positionen (von Pro zu Kontra und zurück) sowie einen Wandel der zugrunde liegenden Wertbezüge.

(2) Die Verknüpfung der ABAM-Ergebnisse mit Retweet-Netzwerken offenbart drei Diskurskoalitionen: ein techno-futuristisches und ein politisch rechtes Pro-Lager sowie ein Kontra-Lager.

(3) Die computergestützte Vorstrukturierung ermöglicht eine gezielte qualitative Feinanalyse in Verbindung mit Interaktionsmetriken wie Likes und Retweets zur Sichtbarkeitserzeugung.

ABAM ermöglicht es, relevante Akteure, Argumente und diskursive Muster in großen Textkorpora systematisch zu identifizieren. Bspw. wird der Wert Klimaschutz früh vom techno-futuristischen Lager eingebracht und später vom rechten Lager vereinnahmt, während das Kontra-Lager den Wert nicht aufgreift und bei traditionellen Argumenten wie Sicherheit verbleibt. Diese Verschiebung der Wertbezüge geht einher mit dem Wandel hegemonialer diskursiver Positionen.

Methodologisch erlauben es uns LLM-basierte Analysen wie ABAM, die ‘Umordnung’ des Diskurses über lange Zeiträume hinweg sichtbar zu machen. In Verbindung mit weiteren computergestützten Verfahren wie Netzwerkanalysen können zudem Akteure und Akteurs-Koalitionen identifiziert werden, welche die Diskurse maßgeblich beeinflussen. Drittens können wir analysieren, wie diese Akteure die technischen Affordanzen der sozialen Medienplattformen nutzen und so in unterschiedlichem Maße von deren algorithmischen Aufmerksamkeitsregimen profitieren.



Algorithmische Imagination und digitale Kommunikation

Sezgin Sönmez

TU Berlin, Deutschland

Algorithmen können als ein zentrales Organisationsprinzip von Social-Media-Plattformen betrachtet werden. Das Wissen darüber, was Algorithmen auf Plattformen wie X, Bluesky oder TikTok machen sollen, machen dürfen bzw. ‚wirklich‘ machen, scheint sich zunächst auf zwei typisierbare Imaginäre zu stützen, die sich beide im Interface als eine digitale und flexible Diskursinfrastruktur realisieren und diese über diskursive Praktiken im Sinne eines „perpetual update“ fortwährend refigurieren: Auf der einen Seite die algorithmische Imagination der User*innen, in welcher individuelle Deutungsmuster, Erfahrungen, Erwartungen und „Backend-Mythen“ das jeweilige digitale Handeln über die Zeit algorithmisch strukturierbar machen, auf der anderen Seite die Imagination der Entwickler*innen, welche anhand der Erwartungen über das typisierte Nutzungsverhalten von User*innen Zukunftsmodelle generieren, A/B-Tests vollziehen und die Parameter der Algorithmen hierdurch fortwährend nach ökonomischen oder politischen Kriterien verändern und anpassen können; häufig unter hochgradig opaken Bedingungen.

Jene relationale Verschränkung der Bedingungen digitaler Diskurse verweist auf bisherige Debatten über digitale Infrastrukturen, Big Data und der Machtdifferenz zwischen User*innen und Entwickler*innen, welche hier allerdings nicht als ein objektiviertes und deterministisches Verhältnis, sondern als ein eigener Diskurs über Algorithmen gedeutet wird. Dieser Beitrag möchte deshalb einen Vorschlag für eine qualitative und wissenssoziologische Betrachtung der algorithmischen Bedingungen digitaler Diskurse unterbreiten, die algorithmische Macht als ein relationales und fluides Sozialverhältnis versteht, welches diskursiv (re)produziert wird. Hierfür sollen zunächst die theoretischen und methodologischen Beiträge und Zugänge der letzten Jahre zu diesem Thema zusammengefasst und im Hinblick auf eine diskursanalytische Heuristik aufbereitet werden. Des Weiteren sollen typische Narrative und Deutungsarrangements algorithmischer Imaginäre anhand von einigen Diskursfragmenten aufgezeigt werden, die auf den gesellschaftlichen Umgang mit der Unsichtbarkeit und Unübersichtlichkeit algorithmischer Diskursinfrastrukturen verweisen.



Rage for the Machine: Algorithmische Diskursarenen und die Animation diskursiver Dämonen

Gabriel Malli

Institut für Journalismus und Digitale Medien, FH JOANNEUM Graz, Österreich

Social Media-Plattformen stellen eine zentrale politische Diskursarena der Gegenwart dar. Lange Zeit wurde ihnen das Potenzial einer demokratischen Neuordnung von Sprecher:innen-Positionen zugeschrieben – ein Optimismus, der spätestens mit der Implementierung algorithmisch kuratierter Feeds kippte. Zeitdiagnostische Schlagworte wie Postfaktizität, Polarisierung oder Überhitzung markieren jene diskursiven Effekte, die in den letzten Jahren im Zuge der Plattformisierung politischer Kommunikation virulent wurden.

Ausgehend davon fragt der Beitrag, wie sich die „emotionale Architektur“ (Wahl-Jorgensen) von Social Media auf politische Diskurse auswirkt. Ausgangspunkt ist eine an kritische Theorien des digitalen Kapitalismus anschließende Analyse der ökonomischen Funktionslogik der Plattformen: Zentral ist die Kommodifizierung von Verhaltensspuren durch ihre Umwandlung in werberelevante Daten. Um diesen Rohstoff zu maximieren, wird die Nutzungsdauer der User:innen durch algorithmische Steuerung verlängert, wobei Inhalte mit hohem Affizierungspotenzial priorisiert werden. Diese Akkumulationslogik wirkt auf die diskursive Wissensproduktion zurück: Content-Produzent:innen entwickeln „folk theories“ über algorithmische Sichtbarkeitskriterien und richten ihre Inhalte daran aus.

Diese Dynamik wirkt auf politische (Subjekt-)Diskurse: Generell, so meine an Sara Ahmed anschließende These, bedürfen Diskurse einer „affektiven Animation“. Diskursimmanente Subjektfiguren und Gegenstände müssen emotional inszeniert werden, um für ihr Publikum greifbar zu werden. Die Infrastrukturen der Plattformen induzieren jedoch eine Dynamik des Animationsexzesses, die sich in einer affektiven Intensivierung politischer Diskurse niederschlägt. Populistische Strategien – etwa die Aktivierung von Ängsten oder die Produktion von Feindbildern – erweisen sich als besonders kompatibel. In Folge avancieren die Plattformen zu einem Habitat für Subjektfiguren, die ich als „diskursive Dämonen“ bezeichne: negativ konnotierte, moralisch abgewertete Subjektpositionen, die intensiv emotionalisieren und damit hohe Sichtbarkeitsrenditen erzielen – unabhängig von ihrer epistemischen Validität, jedoch mit realen gesellschaftlichen Effekten.