Sitzung | |
AdH17: Das Phänomen der Reichsbürger:innen
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
Rechtliches Handeln als Brücke zwischen Gegenwart und Utopie Wissenschaftszentrum Berlin, Germany Bis heute untersuchen wenige Studien das Reichsbürger:innen Milieu aus der Binnenperspektive seiner Anhänger:innen. Bis auf wenige Ausnahmen (bspw. die Beiträge in Schönberger&Schönberger 2020) bleibt gerade die Auseinandersetzung mit den juristischen Ideen der Szene auf pragmatische Fragen der Dogmatik und Rechtsdurchsetzung beschränkt. Es fehlt umfassende empirische Forschung, die danach fragt, wie Angehörige der Szene ihr rechtliches Handeln selbst wahrnehmen und wie sie damit ihren Alltag strukturieren. In meiner Doktorarbeit habe ich mich dieser Frage mit einem qualitativen multimethoden Ansatz genähert. Der vorliegende Beitrag stützt sich auf ethnografisches Material aus teilnehmender Beobachtung bei Protesten und Gerichtsverhandlungen sowie auf Gespräche mit Anhänger:innen der Szene. Im Zentrum steht die These, dass deren juristische Handlungen als prefigurative Legalität (Cohen & Morgan 2023) verstanden werden können – also als der Versuch, in alltäglichen Handlungen rechtliche Normen umzusetzen, die eine angestrebte zukünftige Gesellschaftsordnung wiederspiegeln, als existiere diese bereits in der Gegenwart. Individuelle Handlungen werden dabei zum gelebten Vorbild für die gewünschte Ordnung. Anhand von Beispielen zeige ich, dass rechtliche Vorstellungen in der Szene in Ritualen umgesetzt werden. Juristische Formate strukturieren individuelle Handlungen und umschreiben kollektive Handlungsmöglichkeiten. Die legalistische Form verleiht ihnen symbolische Ordnung und macht abstrakte politische Aspirationen konkret erfahrbar – auch jenseits staatlicher Anerkennung oder Durchsetzbarkeit. In der gemeinschaftlichen Ausführung solcher Praktiken entsteht ein Gefühl von Zugehörigkeit und Kontrolle im Hier und Jetzt, während zugleich die Bindung an eine utopisch gedachte Zukunft gestärkt wird. Diese zukunftsorientierte Dimension des legalistischen Handelns der Szene ist bislang wenig beachtet worden, bietet aber wichtige Einsichten: Sie erklärt mit, warum die juristischen Praktiken der Szene trotz (oder gerade wegen) ihrer offensichtlichen Dysfunktionalität Anziehungskraft entfalten. Der Beitrag plädiert dafür, diese Praktiken als sinnstiftende Elemente einer politischen Gegenkultur ernst zu nehmen – einer Kultur, die mittels juristischer Ausdrucksformen versucht, eine alternative gesellschaftliche Ordnung zu prefigurieren. Vestimentäre Dramaturgien im verschwörungsideologischen Souveränismus Leuphana Universität Lüneburg, Deutschland In den letzten Jahren haben öffentliche Proteste der sogenannten ‚Reichsbürger:innen‘ vermehrt Aufmerksamkeit erregt. Charakteristische Symboliken wie Schwarz-Weiß-Rot, Flaggen oder Trachten prägen das Erscheinungsbild dieser Szene. Kleidung fungiert dabei als Träger ideologischer Botschaften mit politischem und kommunikativem Charakter (vgl. Korgel/Borstel 2002). Der Beitrag untersucht die Protestkleider dieser Szene (Gianonne/Threuter 2024) und analysiert deren Funktion in der politischen Kommunikation und Identitätsarbeit. Protestkleider reichen über die bloße Funktion des Schmückens hinaus; sie sind symbolisch aufgeladen und Teil eines „Rituals der politischen Handlungsgemeinschaft“ (ebd.). Solche vestimentären Codes erleichtern die Verankerung politischer Botschaften, die so soziale Wirkung entfalten können (Korff 1991). Der Beitrag argumentiert, dass textile Elemente in der Szene zum einen identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend wirken, zum anderen szeneinterne sowie externe Abgrenzungen über sie verhandelt werden. Eine zentrale Rolle spielt die Vorstellung einer Bedrohung der eigenen Identität als „Deutsche“, der durch identitätspolitisch geprägte Kleidung performativ entgegengewirkt wird. Inszenierte Veranstaltungen und Rituale fungieren als Bühne für diese Strategien. Besonders hervorzuheben ist der Bezug auf die Farben Schwarz-Weiß-Rot, die alleinstehend oder mit programmatischen Schriftzügen wie 1871 auftreten und die Szene mit einem breiteren Spektrum rechtsextremer Symboliken verbinden. Die Bedeutung textiler Elemente reicht über Kleidung hinaus. Textilien wie die Flagge des Deutschen Kaiserreichs schaffen visuelle und metaphorische Verbindungen zwischen den Körpern der Protestierenden (Gianonne/Threuter 2024). Auf sogenannten Bundesstaatentreffen ist es beispielsweise gängige Praxis, die Flaggen der ehemaligen Bundesstaaten zu tragen. Die Materialisierung der Codes wird zu einem Kommunikationsmittel, um sich innerhalb einer Identitätskategorie auf einer heterogenen Protestveranstaltung zu erkennen und miteinander über ein „vestimentäres Zeichen der Allianz” zu identifizieren (ebd.: 7). Auf Grundlage einer dreijährigen ethnographischen Studie ordnet der Beitrag diese Strategien in theoretische Diskurse zur Funktion von Protestkleidung ein und schließt eine Forschungslücke zur Rolle vestimentärer Symbolik in der ‚Reichsbürger:innen‘-Szene. Von ‚lebenden Menschen‘ und ‚juristischen Personen‘ – Performative Protestpraktiken sogenannter ‚Reichsbürger:innen‘ vor Gericht Leuphana Universität Lüneburg, Deutschland Sogenannte ‚Reichsbürger:innen‘ lehnen die geltende staatliche Ordnung mit Verweis auf deren (vermeintliche) Illegitimität ab und verleihen ihrem Protest mit verschiedensten performativen Praktiken Ausdruck, wofür sie nicht selten auch die Bühne des Gerichtssaals nutzen. Diesen liegt die, im internationalen Kontext unter dem Begriff der Strawman Theory bekannte, verschwörungsideologische Annahme zugrunde, dass sich das geltende Recht lediglich auf immaterielle ‚juristische Personen‘ beziehe, nicht jedoch auf ‚lebende Menschen‘. Vor dem Hintergrund einer dreijährigen ethnographischen Studie zum rechtlichen Verschwörungsdenken sogenannter ‚Reichsbürger:innen‘ argumentiert der Beitrag, dass der Körper einen zentralen Bezugspunkt von szenetypischen Protestpraktiken vor Gericht darstellt, mit denen letztlich eine (Re-)Souveränisierung des Selbst angestrebt wird. Es werden zwei zentrale, ineinandergreifende Modi des rechtlichen Verschwörungsdenkens sogenannter ‚Reichsbürger:innen‘ beleuchtet, die in performativen Protestpraktiken vor Gericht Ausdruck finden: Zum einen ist zu beobachten, dass szeneangehörige Angeklagte die Legitimität des gerichtlichen Verfahrens zurückweisen, indem sie verbal kundtun, sich nicht angesprochen zu fühlen und/oder Richter:innen vorhalten, dass sich ihre Verfügungsmacht lediglich auf körperlose Entitäten, also ‚juristische Personen‘, beschränke. Auf diese Weise intendieren Angeklagte, dem Gerichtsverfahren ihre eigene Körperlichkeit zu entziehen, womit sie auf den wesentlichen Kern des staatlichen Gewaltmonopols abzielen. Zum anderen ist es eine gängige Praxis, dass szeneangehörige Angeklagte in Gerichtsverfahren es verweigern, sich auf den ihnen zugewiesenen Platz zu setzen. Vielmehr ziehen sie es vor, die gesamte Verfahrensdauer über zu stehen. Die Befolgung der prozessualen Konvention des Hinsetzens kommt ihrem Verschwörungsdenken folgend einer vertragsrechtlichen Anerkennung der Bundesrepublik gleich, was qua performativem Widerstand gegen die gerichtlichen Gepflogenheiten vermieden werden soll. Was ist verschwörungsideologischer Souveränismus? Vorschlag zur Kategorisierung des Phänomens „Reichsbürger:innen“ CeMAS -Center für Monitoring, Analyse und Strategie, Deutschland Das Phänomen der „Reichsbürger:innen“ und anderer Gruppierungen wird in der deutschen Öffentlichkeit seit knapp zehn Jahren diskutiert. Einzelne Landesämter für Verfassungsschutz beobachteten das Phänomen bereits seit Anfang der 2010er Jahre unter den Begriffen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“, während es an wissenschaftlichen Analysen mangelte. Seither sind mehrere Veröffentlichungen zum Phänomen aus unterschiedlichen Disziplinen erschienen. Das Forschungsfeld ist im deutschen Sprachraum jedoch weitestgehend überschaubar. Auch im internationalen Vergleich lässt sich konstatieren, dass – abgesehen vom angelsächsischen Sprachraum – kaum Erkenntnisse vorliegen, obwohl entsprechende Gruppierungen und Einzelpersonen auch in anderen Staaten aktiv sind. In der internationalen Forschung wird seit den Protesten während der Covid-19-Pandemie der Begriff „Anti-Government Extremism“ als Kategorie zur Phänomenbeschreibung genutzt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Begriffe die Gemeinsamkeiten der heterogenen Milieus ausreichend erfassen können. Um solcherart Milieus auch im Rahmen transnationaler Forschung adäquat zu beschreiben, ist die Verwendung eines präziseren Begriffs erforderlich. Dieser sollte eine spezifischere Kategorisierung und Analyse der unterschiedlichen Erscheinungsformen und Motivationen sowie angrenzender Milieus ermöglichen. Der Vortrag unterbreitet den Vorschlag, den Begriff des verschwörungsideologischen Souveränismus zu verwenden. Er beschränkt sich weder auf nationale Spezifika noch ein allgemeines Handeln gegen Regierungen, sondern bietet die Möglichkeit, Phänomene transnational zu fassen, indem er zentrale verbindende Elemente des Denkens und Handelns hervorhebt. Diese lassen sich, so die Argumentation des Vortrags, folgendermaßen ausdrücken: 1. Die Welt werde gelenkt durch mächtige Verschwörungen, die sich auch des Staates bedienten, um ihre bösen Pläne zu verwirklichen. 2. Von ihnen müsse die Kontrolle zurückerlangt werden, um als Individuum, Gruppe oder Volk wieder souverän zu sein. Den Abschluss des Vortrags bildet eine Betrachtung der Limitationen des Begriffs, wie etwa die Gefahr einer mangelnden Trennschärfe gegenüber verwandten Phänomenen. Den Abschluss des Vortrags bildet eine Betrachtung der Limitationen des Begriffs, wie etwa die Möglichkeit einer mangelnden Trennschärfe gegenüber verwandten Phänomenen. |