Wer sieht was - und warum (nicht)? Plädoyer für 'multiperspektives Sehen' als soziologische Praxis nach dem 7. Oktober
Esther Gardei
Uni Bonn, Deutschland
Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat auch in Deutschland eine intensive politische, mediale und wissenschaftliche Reaktion ausgelöst. In Israel wird der Terrorangriff mit dem Holocaust verglichen – ein historisch problematischer, aber soziologisch hoch aufgeladener Bezug, der die symbolische Verflechtung zwischen deutscher Vergangenheit und israelischer Gegenwart sichtbar macht. Zugleich stoßen diese Bezüge in Israel auf harte Kritik. In Deutschland hingegen scheint der Diskurs oft begrenzt auf erwartbare Narrative zu bleiben. Slogans wie „Free Palestine from German Guilt“ oder vielfältige „Nie wieder!“-Appelle zeigen, wie stark emotionale Spannungen und politische Positionierungen ineinandergreifen. Soziologinnen können in diesem Kontext nicht neutral bleiben. Sie übernehmen Rollen – als Vortragende, Forschende, Diskutierende –, die sie aktiv und als Teil der Auswirkungen unversöhnbarer Gewaltverbrechen auf Gesellschaften reflektieren müssen. Angelehnt an Erving Goffmans „Bühnen“-Metapher und Peter L. Bergers Formulierung des „Zwangs zur Häresie“ plädiere ich im Kontext der Erforschung der jüngsten israelischen Geschichte in Deutschland für eine reflexive Multiperspektivität, Mut zur Ambiguitätstoleranz (Frenkel-Brunswick) und Sichtbarmachung des eigenen Standorts: also eine Grundhaltung von Forschung, die Widersprüche nicht glättet, sondern produktiv macht. Gerade im Umgang mit Bildern – ihrer Präsenz, ihrer Abwesenheit, ihrer affektiven Kraft – zeigt sich, wie stark unsere Wahrnehmung von sozialen Rollen, Kontextwissen und Deutungsrahmen geprägt ist. Soziologische Analysen können Räume schaffen, in denen verschiedene Sichtweisen koexistieren – in gemeinsamen Projekten, in kontroversen Diskussionen, aber auch innerhalb eines Seminars und diese wiederum - auch teilnehmend beobachtend - analysieren. Anhand von Beispielen aus meiner empirischen Forschung und Lehrerfahrungen zu den Folgen des 7. Oktobers in Deutschland werde ich auch die Herausforderungen der eigenen Standortverortung thematisieren – in meinem Fall Ausdruck eines „Herzenstakts“ (Gerschom Scholem/Eva Illouz), der sich in Solidarität mit der israelischen Zivilgesellschaft positioniert.
Das Versprechen der Moderne und die Tragik im Ethos Menschenrechte
Gesa Lindemann
Carl vo Ossietzky Universität, Oldenburg, Deutschland
Der Vortrag untersucht die linke Kritik an Israel und arbeitet als einen wesentlichen Grund heraus, dass viele Linke kein rationales Verhältnis zu Gewalt finden. D.h., die Notwendigkeit von Gewalt zur Sicherung des Ethos der Menschenrechte, die Tragik im Ethos der Menschenrechte wird verleugnet. Die moderne Gewaltordnung zeichnet sich durch eine Konkurrenz zwischen zwei verschiedenen Verfahrensordnungen der Gewalt aus. Nach innen gilt die Ordnung der demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich gebundenen Zentralgewalt, die zugleich als Garant der Bürger- und Menschenrechte gilt und das Vertrauen in Gewaltlosigkeit im gesellschaftlichen Zusammenleben ermöglicht. Nach außen gilt die Ordnung des Ausgleichs und der potentiell gewaltsamen Konkurrenz zwischen gewaltfähigen (National-)Staaten. Wenn Staaten in beiden Ordnungen gleichzeitig existieren, droht die Ordnung des Ausgleichs die Ordnung rechtsstaatlich gebundener und demokratisch legitimierter Gewalt auf die Dauer zu zerstören. Da es Menschenrechte nicht ohne Nationalstaat gibt, führt dies in die Tragik des Ethos der Menschenrechte. In der Kritik an Israel wird diese Tragik verleugnet. Dies zeigte sich nicht zuletzt daran, dass nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel, den Geiselnahmen und den darauffolgenden Einsätzen der israelischen Armee im Gazastreifen viele postkoloniale Linke die Hamas bejubelten oder beschwiegen, die Maßnahmen der israelischen Armee aber sehr schnell umfassend kritisierten.
»Magst Du Juden?« Über Werturteilsprobleme und historische (Dis-)Kontinuitäten
Thorsten Benkel
Universität Passau, Deutschland
Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 setzte zunächst ein beispielloses Blutbad in Gang, dessen genozidale Stoßrichtung eigentlich unübersehbar sein sollte: Jeder Mensch, der den Mördern begegnete, gleich welchen Alters, Geschlechts, welcher Herkunft, welcher Religion, wurde getötet; viele wurden außerdem gefoltert und/oder vergewaltigt. Dieser Angriff hat zu einer in ihrer Schwere gleichsam bislang kaum bekannten und gravierenden Reaktion der israelischen Armee geführt, der im Gaza-Streifen zehntausende Menschen zum Opfer fielen; viele andere verloren ihren gesamten Besitz und kamen nur knapp mit dem Leben davon.
Diese Ereigniskette wird bekanntlich sehr unterschiedlich bewertet – auch und gerade aus einer räumlichen Entfernung heraus, losgelöst von den beiden Konfliktparteien, aber nicht losgelöst von den Bildern dieses Krieges, die ein „distant suffering“ (Luc Boltanski) evozieren. Die aktuelle (und weiterhin akute) Lage zwischen Israel und dem Palästinenser-Gebiet polarisiert stark. Die Debatte wird nicht lediglich entlang ideologischer Positionen geführt, sondern wirkt zumindest stellenweise wie eine Freisetzung lange angestauter Empfindungen und Postulationsbedürfnisse, die „dank“ des Geschehens nun endlich eine legitime Artikulationsbasis finden.
Die Polarisierung erschwert auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Gerade an Universitäten wird vehement gestritten – aber nicht immer gemäß akademischer Diskursregeln. Wie könnte vor diesem Hintergrund eine „neutrale“ Sichtweise auf das Geschehen vom 7. Oktober ff. eigentlich aussehen – und wäre eine solche Perspektive überhaupt wünschenswert? Das soll mit Rekurs auf soziologische Denkfiguren von Weber, Bauman, Elias u.a. und im Rückgriff auf verschiedene Strategien der Bebilderung bzw. der Bilderlosigkeit von Momenten dieses Konflikts soziologisch rekonstruiert werden.
„Gefeierte Gewalt, verschwundene Empathie“: Antisemitismus und Affektpolitik im postkolonialen Solidaritätsdiskurs nach dem 7. Oktober.
Natascha Müller
NGS global, Spanien
Kurz nachdem die Hamas am 7. Oktober 2023 im Süden Israels fast 1.200 Menschen ermordet, sie bei lebendigem Leib verbrennt, Zivilistinnen verschleppt und mit Leichenzügen durch jubelnde Massen zieht, folgen weltweit spontane Solidaritätsbekundungen – jedoch kaum für die Opfer des Massakers.
Stattdessen werden die begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vielerorts als „antikolonialer Widerstand“ gefeiert: In New York imitieren Demonstrierende die Gräueltaten der Hamas durch symbolische Gesten des Kehledurchschneidens, an US-Eliteuniversitäten werden Slogans wie „Hamas we love you and your rockets too!“ skandiert und renommierte Professor*innen zeigen sich „begeistert“ oder nennen die Massaker „innovativ“ für den Kampf
gegen den israelischen Kolonialismus.
Die massive Welle der Unterstützung für die Täter kontrastiert dabei scharf mit dem Schweigen gegenüber jüdischem Leid. Selbst bis zum 13. Oktober, noch bevor Israel mit Bombardierungen in Gaza begann, wurden Gesten des Mitgefühls gegenüber trauernden Jüd*innen weitgehend verdrängt – durch Aggression, Hass und offene Schadenfreude. Gleichzeitig nahmen Angriffe auf jüdische Gedenkveranstaltungen zu und antisemitische Übergriffe stiegen weltweit um ein Vielfaches.
Diese moralische Asymmetrie – zwischen gefeierter Gewalt und verschwundener Empathie – ist das, was Eva Illouz als „moralisches Rätsel“ des 7. Oktober bezeichnet. Der vorliegende Beitrag nimmt dieses Rätsel zum Ausgangspunkt und diskutiert mit Bezug auf poststrukturalistische und psychoanalytische Theorien (Laclau, Mouffe, Lacan, Žižek) sowie Ansätzen aus der Antisemitismusforschung (Adorno, Horkheimer), wie sich dieses moralische Ungleichgewicht als Zusammenspiel von ideologischer Affektpolitik, antisemitischer Fantasien und moralisch kodierter Gewalt rekonstruieren lässt.
Gezeigtes und Gesehenes: Transformation eines jüdischen Blicks nach dem 7. Oktober
Nicole Kirchhoff
Universität Bielefeld, Deutschland
Mit den Ereignissen des 7. Oktobers 2023 entsteht nicht nur eine gewaltvolle Zuspitzung des israelisch-palästinensischen Konflikts vor Ort. Gleichermaßen eskalieren politisch wie lebensanschaulich motivierte Polarisierungen, die emotional hochgradig aufgeladen sind und weltweit zu aggressiv bekennenden ›Lagerbildungen‹ führen. Dies ist auch und vor allem in sozialen Kontexten zu beobachten, die ebenso wenig von der Gewalt des terroristischen Angriffs der Hamas noch von der kriegerischen Gegenoffensive Israels unmittelbar betroffen sind. Das Töten, Vergewaltigen und Massakrieren erleben Angehörige ›westeuropäischer‹ Nachkriegsgesellschaften zumeist in diskursiver Distanz, - es wird über (digital verbreitete) Bilder und Berichterstattungen der Massenmedien rezipiert, durch eigene Beiträge über soziale Medien mit produziert und gleichzeitig zum Anlass genommen, um Figuren von Tätern und Opfern der Gewaltspirale zu konstruieren. In Verkennung bzw. in der Abwehr deutsch-jüdischer Geschichte des 20. Jahrhunderts trägt dies neuerlich dazu bei, antisemitische Feindbilder aufzurufen vom ,Jüdischen Tätervolk‘, die u.a. in Demonstrationen, Besetzungen von Hörsälen und körperlichen Übergriffen zum Ausdruck kommen und sich gegen Angehörige jüdischen Glaubens richten. Es scheint, als habe der 7. Oktober »das Gerücht über die Juden« (Adorno 1951) erneut in Gang gesetzt und als sei es (wieder) körperlich geworden.
Ohne Zweifel sind es nicht zuletzt fotografische Bilder und ihre (manipulative) Wirkung, die bestürzende Reaktionen (und Gegenreaktionen) wie diese stützen auch unabhängig davon, wie es um ihren reellen Gegenstandsbezug bestellt ist. Ihre Beweiskraft wird in Diskursen der KI zwar in Frage gestellt, jedoch erzeugt ihr affektuelles Potenzial eine eigene Authentizität in Arten und Weisen der Wahrnehmung. In dieser übt Gesehenes wie Un-Gesehenes »Appelfunktionen“ (Michel 2025) aus, wie am Fall einer jüdischen Glaubensangehörigen in Deutschland exemplarisch gezeigt werden kann. Mit der Frage, wer was und wie sieht, wird auf der Basis eines bildbasierten Interviews die Transformation eines Blicks auf die deutschsprachige (Bild-)Berichterstattung rekonstruiert, der mit dem 7. Oktober 2023 ihren Ausgang nahm und das schwindende Mitgefühl gegenüber israelischen Opfern zum Gegenstand der Diskussion macht.
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