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AdH10: Architektur - Zur Materialität und Räumlichkeit gesellschaftlicher Transitionen
Sitzungsthemen: Meine Vortragssprache ist Deutsch.
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Zusammenfassung der Sitzung | |
Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten. | |
Präsentationen | |
Diskurse, Materialität, Praktiken. Die Untersuchung von sozialem Wandel im Medium der Architektur Goethe-Universität Frankfurt am Main Als institutionell auf Dauer gestellte Wissenssammlungen fungierten Bibliotheken lange als „Stabilitätsgarantie der modernen Gesellschaft“ (Baecker 2018b: 4). Hier wurde der Einzelne in den „objektiven Geist der Gesellschaft“ einbezogen (Karstedt 1954: 39); als „Generalarchiv“ sollten sie „an einem Ort alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen, alle Geschmäcker“ akkumulieren (Foucault 1967: 34). Mit der Verbreitung von Heimcomputern und der initialen gesellschaftlichen Aneignung des Internets als kommerzieller Infrastruktur Mitte der 1990er Jahre – kurz: dem Beginn des digitalen Zeitalters – gerieten Bibliotheken unter Legitimationsdruck. Denn: Wer braucht noch Bibliotheken, wenn vermeintlich jede Information zu jeder Zeit und an jedem Ort abgerufen werden kann? Über Suchmaschinen wie Yahoo ließen sich Informationen erstmals auch bequem von zuhause aus über den heimischen PC abrufen. Als physische Orte wurden Bibliotheken in der Folge vielfach bereits für tot erklärt. Über 25 Jahre später sind Bibliotheken nicht verschwunden, aber unterliegen vielfältigen und teils widersprüchlichen Veränderungsprozessen, die ich in meiner Dissertation mit Blick auf ihre Architektur rekonstruiert habe. Wie aber lässt sich Architektur als Untersuchungsgegenstand operationalisieren und über welche Erhebungsformen und Auswertungsmethoden in ihrer Genese greifen? Methodisch stelle ich dazu eine Heuristik der Architektur- und Raumordnung zur Disposition, die Diskursanalyse, eine sequenzielle Analyse von Baugeschichten sowie historisch-ethnografische Methoden verbindet. Diese geht von Silke Steets Grundlegungen zu einer wissenssoziologischen Architekturforschung (Steets 2015) und Heike Delitz historisch-vergleichender Perspektive auf Architektur aus (Delitz 2010), operationalisiert beide Ansätze aber so, dass die Architektur von Bibliotheken sowohl in ihrer Mehrdimensionalität von Externalisierung, Objektivation und Internalisierung (Steets 2015), als auch ihrer historischen Variabilität (Delitz 2010) erfasst werden kann. Im Ergebnis entsteht so eine Historische Soziologie, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse im Medium von Architektur am Beispiel von Bibliotheken nachvollzieht. In den Blick kommt dabei, wie Architektur als Ergebnis, Medium und Anstoß gesellschaftlicher Veränderungsprozesse (wie Beharrungen) fungiert. Städtebauliche Leitbilder als Speichermedien gesellschaftlicher Werte Justus-Liebig-Universität Gießen Dem Sozialpsychologen Hippius folgend, als kollektiv-übergreifende, „dominierende Idee“ einer ganzen Epoche verstanden (Hippius, 1943; Streich, 1988; Kuder, 2001), zeigen frühe neuzeitliche Beispiele wie die Ideal-Stadt der Renaissance oder Barocke Stadtgründungen (Eaton, 2001; Jessen, 2018), dass Leitbilder stets „selbstverständlicher Bestandteil der Stadtplanung“ (Kuder, 2008) waren (Streich, 1986; Becker, 2010). Aktuelle empirische Untersuchungen betonen wiederholt die Rolle von Leitbildern und Werten in der alltäglichen Planungspraxis insbesondere in Entscheidungsfindungsprozessen (Levin-Keitel et al., 2019; Othengrafen & Levin-Keitel, 2019; Othengrafen et al., 2019; Müller et al. 2024). Dennoch hat sich die Planungswissenschaft weder mit Werten noch mit Leitbildern eingehend beschäftigt (Levin-Keitel & Behrend, 2022; Bakunowtisch et al., 2024; Bongers-Römer & Diller, 2024). Der Beitrag setzt an dieser Stelle an und beleuchtet zunächst die Rolle von Werten in der (impliziten und expliziten) Konsensbildung über kollektiv-übergreifende Leitbilder aus einer Vielzahl anderer denkbarer Möglichkeiten der räumlichen Ordnung und der Organisation von Planungsprozessen (Durth & Gutschow, 1988; Kuder, 2004 & 2008) heraus. Innerhalb des damit erarbeiteten konzeptionellen Rahmens werden Leitbilder einerseits als aktive, sozial konstruierte und politische Prozesse und andererseits als Speichermedien gesellschaftlicher Werte konzipiert. Dies wird anhand einer vergleichenden Fallstudie ausgewählter, aktueller städtebaulicher Leitbilder verdeutlicht. Damit trägt der Beitrag zu einer systematischen Analyse von Leitbildern und Werten in der Planung bei und bietet Anschlussmöglichkeiten für die Untersuchung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse und Transitionen anhand (technischer) Artefakte in der Architektursoziologie. Dakar Is a Construction Site. Perspektiven postkolonial-feministischer Baustellenforschung Technische Universität Berlin Postkoloniale Städte sind umkämpfte Räume, in denen historische Gesellschaftsstrukturen, neoliberale Dynamiken und soziale Widerstände aufeinandertreffen. Baustellen repräsentieren dabei metaphorische sowie materielle Ausdrucksformen urbaner Transformation, verweisen auf verräumlichte Ungleichheitseffekte kapitalistischer Expansion und konflikthafte Ideologien. Die Psychographie Dakar Is a Construction Site untersucht, wie Baustellen im gegenwärtig rasant in die Höhe wachsenden Dakar das Spannungsfeld zwischen kolonialen Kontinuitäten und neoliberalen Modernisierungsprozessen verkörpern. In welcher Weise spiegeln und gestalten Baustellen sozio-politische Transitionen in der Postkolonie Dakar? Welche dekolonialen Zukunftsvisionen lassen sich aus ihnen ableiten? Welche postkolonialen, patriarchalen und intersektionalen Strukturen „zementieren“ sie? Im Workshop erörtere ich, wie eine postkolonial-feministische Baustellenforschung neue theoretische und methodische Impulse an der Schnittstelle kritischer Stadt- und Architektursoziologie liefern kann. Ihr dekoloniales und feministisches Forschungsdesign rückt gelebte Erfahrungen und situierte Wissen aus Dakar in den Mittelpunkt. Konkret basiert die empirische Analyse auf der laufenden Ethnografie Dakar Is a Construction Site in Anlehnung an Lucius Burckhardt und die Situationistische Internationale. Mithilfe psychogeografischer Spaziergänge werden Baustellen als Orte urbanen Wandels untersucht und audiovisuell dokumentiert. Die multisensorischen Erzählungen erfassen materielle Transformationen, symbolische Bedeutungen und alltägliche Diskurse über die sich im Umbau befindende Stadt und bilden die Grundlage einer konstruktivistischen Grounded Theory. Durch die Verbindung von Stadt- und Architektursoziologie mit postkolonial-feministischer Kritik und dekolonial-feministischen Methoden rollt die Studie die Frage nach globaler räumlicher Gerechtigkeit anhand der Baustelle – ein bislang unterrepräsentierter soziologischer Gegenstand – neu auf. Von der Plantage zur Architektur. Was sagt uns der Übergang zum städtischen Holzbau über die Gesellschaft? HafenCity Universität Hamburg Dieser Vorschlag untersucht kritisch die sozio-materiellen Implikationen der Transition zum urbanen Holzbau und wirft Fragen über die Beziehung zwischen sozialem Wandel und dem Umgang mit natürlichen Ressourcen und politischen Narrativen rund um die Förderung von Holz als Lösung für die umfangreichen Kohlenstoffemissionen im Bauwesen auf, wobei die komplexe Realität der Rohstoffbeschaffung außer Acht gelassen wird. Anhand einer Fallstudie über Eukalyptusholz in Nordspanien argumentiere ich, dass die ethnografische Forschungsmethodik, die von den Science and Technology Studies befürwortet wird, ein wichtiges Instrument ist, um laufende soziale Veränderungen zu verstehen, ihre Greifbarkeit zu erhöhen und einen zugänglichen transdisziplinären Dialog zu ermöglichen. Die Auseinandersetzung mit ExpertInnen und den Bedingungen entlang der Versorgungsketteverdeutlicht die Spannungen rund um die Produktionseffizienz und die Risiken von Monokulturen, wie etwa Krankheiten und Waldbrände. Darüber hinaus erfordert die Erforschung der Verbindung zwischen Holz und Gesellschaft eine kritische Betrachtung des Begriffs Materialität als physische und symbolische Dimension. Die Materialität von Eukalyptusholz ist physisch, verbunden mit dem Standort der Plantage und der Verarbeitung, aber auch symbolisch, da sie eine ästhetische Qualität darstellt und Nachhaltigkeit verspricht, während sie gleichzeitig in einen Konflikt zwischen monopolisierten Industrien und den Nachbarschaften der Plantage eingebettet ist. Der Baum aus einer Monokultur auf dem Weg zu einem standardisierten Bauelement nimmt eine Zwischenstellung zwischen absichtlicher Platzierung und unkontrollierbarem Element ein und zeigt weitere Dimensionen der gebauten Materialität auf. Architektur der Ausgrenzung - 'Feindliche Architektur' als spezifisches Phänomen Europas Universität Regensburg, Deutschland Im öffentlichen Raum manifestieren und materialisieren sich soziale Ungleichheiten. Dies hat zur Konsequenz, dass der öffentliche Raum als Inbegriff des Politischen permanenten Aushandlungs- und Verdrängungsmechanismen unterworfen ist, die in Form urbaner öffentlicher Architektur auch gesellschaftliche und ökonomische Transitionen widerspiegeln. Der Beitrag zielt deshalb darauf ab, die baulichen Veränderungen und gesellschaftlichen Übergänge im öffentlichen Raum als Teil einer bestimmten architektonischen Kultur Europas zu verstehen und sichtbar zu machen. Im Rahmen dessen verfolgt der Vortrag den Grundverdacht, dass Architekturen, verstanden als ein „Beitrag zur Hervorbringung der menschlichen Kultur und Gesellschaft“ (Steets 2015: 108) und als „Gestalt der Gesellschaft" (Delitz 2009: 17) einerseits einen spezifischen Beitrag zur Konstitution des Sozialen leisten und sich deshalb auch sozio-ökonomische Transformationsprozesse architektonisch und städtebaulich abbilden. Dies soll am Beispiel der sog. „feindlichen Architektur“ erläutert werden. So ist diese Form der Architektur nicht nur überall in Europa zu finden, sondern fördert ganz konkret und auf je eigene Weise in europäischen Städten Verdrängungsdynamiken und „Versicherheitlichungen“. So wird aufgezeigt, dass diese Form der Architektur zu ebenjener Konstitution des Sozialen beiträgt, in diesem Fall der konkreten Praktiken und Institutionen, wie etwa Diskurse und Affekte der Verdrängung. Darüber hinaus werden die Fragen behandelt, welche Individuen von „feindlicher Architektur“ ausgegrenzt und um welche gesellschaftlich konstitutive Grenzziehung es sich hierbei handelt (Foucault 2018). Denn um Rückschlüsse über die inneren Werte, Funktionsweisen und Übergänge einer Gesellschaft zu gewinnen ist es unerlässlich, eine „Geschichte der Grenzen“ (Foucault 2018: 9) zu schreiben, die auch etwas über das außerhalb einer Gesellschaft aussagt. Im Ergebnis entsteht so ein klares Bild davon, wie gesellschaftliche Ungleichheiten und Transitionen räumlich, materiell und architektonisch gefasst werden und wie dies gesellschaftliches Zusammenleben innerhalb europäischer Städte beeinflusst. |