Veranstaltungsprogramm

Sitzung
AdH3: Akteur ohne Mensch – Konzeption und Konsequenzen nichthumaner Agency
Zeit:
Mittwoch, 24.09.2025:
9:00 - 11:45

Chair der Sitzung: Fabian Anicker, HHU Düsseldorf
Chair der Sitzung: Sascha Dickel, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

Erst das Handeln, dann die Handelnden - Eine zurechnungstheoretische Perspektive

Gregor Bongaerts

Universität Duisburg-Essen, Deutschland

Handeln ist ohne Handelnde nicht vorzustellen. In der handlungstheoretischen Tradition der Soziologie wird allerdings zumeist vergessen, dass auch umgekehrt gilt: Handelnde sind ohne Handeln nicht vorzustellen. Dieses Vergessen macht sich daran bemerkbar, dass relativ viel über Handelnde und deren Eigenschaften geschrieben worden ist, also über Akteure und Agency, jedoch recht wenig über Handeln als beobachtbares Phänomen. In der Regel wird nicht Handeln, sondern etwas anderes beobachtet, als dessen Ausdruck Handeln aufgefasst wird. Es wird als ein Ausdruck subjektiver Sinnsetzungen oder sozial verteilter und von Handelnden internalisierter Normen/Regeln beschrieben, nicht aber als ein eigenständiges Phänomen, von welchem aus erst die Handlungsträgerschaft und damit auch die Eigenschaften der Handelnden – folglich die Akteure und Agency – in den Blick geraten können. Dass diese Eigentümlichkeit der soziologischen Handlungstheorien durchaus problematisch ist, lässt sich in den letzten Jahrzehnten an dem verstärkten Bemühen erkennen, Handeln von der starken Bindung an menschliche Akteure und deren Agency zu entkoppeln.

Die soziologischen Handlungstheorien, wie sie seit den Klassikern des Fachs bekannt sind, sind von zwei Seiten in Frage gestellt und zur Revision aufgerufen: Zum Ersten von Seiten einer von Beginn an verfehlten Beschreibung des Phänomens „Handeln“ durch andere Phänomene, die Handeln gerade nicht sind – also zum Beispiel subjektiv gemeinter Sinn, Motive, Regeln usw. Zum Zweiten durch gesellschaftliche Veränderung, die durch neue Technologien induziert sind – die digitale Transition. Um eine entsprechende Neubestimmung vorzunehmen, bietet es sich m.E. an, nicht primär auf die Handelnden, sondern auf das Handeln zu fokussieren. Ausgehend von den Phänomenen, die als Handeln und Handlung behandelt werden, lassen sich auch die Akteure und die Agency begreifen, die ein solches Handeln hervorbringen und dementsprechend als Handelnde mit einer spezifischen ‚Handlungsmacht‘ behandelt werden. Dabei gehe ich davon aus, dass Handeln und Handelnde Zurechnungsphänomene dahingehend sind, dass in praxi im Kontext vorangehenden und folgenden Handelns beständig Handeln und Nicht-Handeln, mithin auch Handelnde von Nicht-Handelnden unterschieden werden. Je nach Kontext kann diese Zurechnung situativ auf sehr unterschiedliche Entitäten erfolgen.



Agency als Antwort auf Orientierungsverlust?

Stefan Meißner

Hochschule Merseburg, Deutschland

Der Vortrag steigt mit einer – im weitesten Sinne – wissenssoziologischen Perspektivierung auf die zunehmende Plausibilität von Agency im soziologischen und medienkulturwissenschaftlichen Denken ein: Warum wird die Vorstellung von nicht-menschlichen Akteuren immer weniger begründungsbedürftig?

Die zu entfaltende These besteht darin, dass die Annahme einer Agency auch von nicht-menschlichen Akteuren, Entitäten, Techniken und Medien einen Orientierungsgewinn im Sozialen ermöglicht. Auf dem ersten Blick scheint diese These der verbreiteten Annahme eines Orientierungsverlustes durch eine ubiquitär gebrauchte Agency-Kategorie zu widersprechen. Denn wenn nun auch Maschinen, Techniken, Medien, Dinge handeln können, steht in Frage, woran man sich in seinem eigenen Handeln überhaupt noch orientieren könne.

Die eigene These soll sodann über zwei distinkte theoretische Argumentationen untersetzt werden. Zunächst wird Agency – systemtheoretisch informiert – als Zuschreibungskategorie verstanden. Das Problem der doppelten Kontingenz wird bekanntlich über den Aufbau von Erwartungsstrukturen gelöst, die hinsichtlich der Zuschreibung von Handeln/Erleben orientieren und dadurch Sozialität handhabbar und deren Umgang in vielen Fällen gar als selbstverständlich erscheint. Sodann wird angelehnt an Foucaults Arbeiten an eine mögliche Typologie von sozialen Orientierungsweisen (Norm, Normierung und Normalisierung) erinnert.

Beide Stränge werden abschließend auf die Eingangsthese bezogen und argumentiert, dass gegenwärtig mit »Convenience« ein weiterer Orientierungsmodus beschrieben werden kann, der in erster Linie auf einer dritten, von Luhmann nur kursorisch angemerkten, Erwartungsstruktur (neben den bekannten normativen und kognitiven Erwartungsstrukturen) basiert. Diese Orientierung qua Convenience erlaubt nicht nur den Umgang mit nicht-menschlicher Agency, sondern nutzt die Delegation und Verteilung von Agency auf nicht-menschliche Akteure, um sich sozial orientieren zu können.



„Aktive Passivität“ und die Macht des Transzendenten: Zur Theorie religiöser Handlungsträgerschaft

Daniel Ellwanger

Universität Leipzig, Deutschland

Der Beitrag untersucht das Potenzial eines erweiterten Agency-Begriffs zur Analyse religiöser Praxis, indem er an Antoine Hennions Konzept des Attachment anknüpft und es auf religiöse Kontexte überträgt. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass nichtmenschliche Akteure wie Götter, Heilige, Dämonen oder sakrale Objekte in religiösen Praktiken nicht nur als symbolische Repräsentationen auftreten, sondern in der Erfahrung der Handelnden als wirkmächtige Entitäten agieren. Anstatt diese Formen des Handelns als bloßen Ausdruck subjektiver Bedeutungszuschreibung zu interpretieren, wird argumentiert, dass sie eine genuine, nichtmenschliche Form von Handlungsträgerschaft darstellen, die in der soziologischen Theorie ernst genommen werden sollte. Im Zentrum steht die Frage, wie Bindungen an Nonhumans (Karen A. Cerulo) – verstanden als spezifische Form sozialer Relation – handlungsmächtig werden. Hennions Vorschlag, Handlungsmacht als „aktive Passivität“ zu fassen, wird dabei als konzeptionelle Brücke genutzt, um Handlungsträgerschaft nicht als Eigenschaft isolierter Entitäten, sondern als relationales, situiertes Geschehen zu begreifen. Religiöse Attachments sind demnach Praktiken der Öffnung, in denen Menschen sich auf die Präsenz und Wirkung nichtmenschlicher Akteure einlassen – sei es in Form von Gebet, Ritual, Berührung oder körperlicher Hingabe und so an Transitionen zwischen Handeln und Erleben, Gabe und Empfangen, Actio und Passio mitbeteilgt sind, aber nie als ihre alleinigen Urheber zu bestimmen sind. Empirisch verortet sich der Beitrag in der Analyse christlicher Heilungspraktiken, in denen Heilige, Ikonen, oder Rituale nicht nur als kulturelle Artefakte, sondern als Mittler zwischen menschlichem Körper und göttlicher Kraft erfahren werden. So kann gezeigt werden, wie sich in religiösen Settings menschliches Handeln, materielle Objekte und transzendente Kräfte auf spezifische Weise verbinden und gegenseitig transformieren. Die Heilung erscheint dabei nicht als mechanischer Effekt, sondern als Resultat einer relationalen Dynamik, in der sich Agency zwischen Menschen, Dingen und dem Transzendenten verteilt. Der Beitrag plädiert daher für eine soziologische Perspektive, die religiöse Praxis nicht auf subjektive Sinnzuschreibungen oder normative Ordnungssysteme reduziert, sondern als komplexes Gefüge relationaler Agency versteht.



KI-Begleiter - Agency in Transition? Eine empirische Forschungsperspektive.

Marvin Waibel, Andrea Heisse, Michaela Pfadenhauer

Universität Wien, Österreich

KI-Begleiter (AI Companions) lassen sich als Manifestationen verschiedener gesellschaftlicher Transitionsprozesse verstehen, die Debatten von Agency, Mensch-Sein und Trans- und Posthumanität symbolisieren: einmal die Automatisierung von Kommunikation durch die kontinuierliche Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz, die das Monopol des Menschen auf ein kommunikatives Subjekt in Frage stellt; dann die sich wandelnden gesellschaftlichen Interaktionsformen, durch neue soziokulturelle und -technische Formen von Freundschaft, Partnerschaft oder Erotik, die Perspektiven auf relationale Agency-Konzeptualisierungen (neu) eröffnen; dazu die anthropomorphen Visualisierungstendenzen im Design der KI-Begleiter, die die Frage nach der Projektion von Agency versinnbildlichen.

In diesem Beitrag möchten wir eine Forschungsperspektive aufzeichnen, die empirisch diesen Fragen von Agency nachgeht und dadurch theoretischen Konzeptualisierungen von Agency ein Fundament bieten kann. Dieser Forschungsansatz betont dabei die Relationalität von Agency, wodurch hybriden Figurationen und Entitäten nicht vorschnell Agency ontologisch ab- oder zugesprochen wird. Agency in kommunikativen Figurationen ist dabei weder ausschließlich eine reine Projektion des Menschen noch per se eine gemeinsame Agency zwischen Menschen und KI, sondern entwickelt sich, so die Hypothese, in empirisch beobachtbaren Mustern, die diese Konzepte transzendieren.

KI-Begleiter erfreuen sich zunehmender Popularität: So verzeichnet der Anbieter Luca, Inc mit seiner KI-Begleitapp Replika über 10 Millionen Nutzer:innen. Anhand digitaler Ethnographie und Gattungsanalyse erforschen wir KI-Begleitungsapps und genereller die Frage, wie Kommunikative-KI (ComAI) Agency in hybriden Beziehungen refiguriert. Am Beispiel der App Replika wollen wir nachzeichnen, wie die Vermarktung, das Design und die kommunikative Form dem KI-Begleiter Agency zuschreiben, wie Nutzer*innen auf ihre KI-Begleiter Agency projizieren oder negieren und wie durch die Interaktionen neue Beziehungsmuster entstehen, die Agency relational verhandeln.

Durch unseren Forschungsansatz erhoffen wir uns Einblicke in verschiedenartige Projektionen, Erwartungen und relationalen Verteilungen von Agency, welche zum Ausgangspunkt für eine zeitgemäße theoretische Fassung von Agency in hybriden Figurationen werden können.



Die Agency generativer KI aus der Perspektive des Konzepts verteilten Handelns

Ingo Schulz-Schaeffer

TU Berlin, Deutschland

In der Interaktion mit generativer KI kommt eine Form technischer Agency zur Wirkung, die sich im Umgang mit technischen Artefakten zuvor erst wenig beobachten ließ. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass der Zusammenhang von angefordertem und bereitgestelltem Handlungsbeitrag bei generativer KI nicht in gleicher Weise geskriptet ist wie beim Gros maschineller und digitaler Techniken zuvor.

Die Interaktion mit technischen Artefakten ist geskriptet, wenn im Vorhinein festgelegt ist, welche Handlungsbeiträge des technischen Artefakts durch welche Befehle oder Handlungsweisen der Benutzer:innen ausgelöst werden. Geskriptete Interaktionen finden sich im Zusammenhang mit technischen Artefakten, die genutzt werden, um technisch vorgefertigte Handlungsbeiträge auf Abruf bereitzustellen. Solche Artefakte besitzen eine Agency von Werkzeugen: Sie stellen Handlungsmittel für vorgegebene Handlungsziele bereit.

Die Algorithmen generativer KI enthalten keine vordefiniert bereitgestellten Problemlösungen. Sie enthalten vielmehr aus Trainingsdaten maschinell gelernte Muster. LLMs wie ChatGPT werden mit der Methode des unüberwachten Lernens trainiert. Es ist deshalb zunächst ganz unbekannt ist, welche Muster sie gelernt haben und wofür sie nützlich sein könnten. Die Qualität und Nützlichkeit ihrer Outputs hängt wesentlich davon ab, wie die Inputs, die Prompts formuliert werden. Die neue Forschungsrichtung des prompt engineering zielt genau darauf. Dabei zeigt sich, dass generative KI-Systeme aus den Abermillionen gelernter Muster ganz unterschiedliche aktivieren, je nachdem, in welcher Rolle oder mit welchem Arbeitsauftrag sie angesprochen werden. Ihre Agency entsteht mithin wesentlich aus Passungsprozessen zwischen den Mustern des Promptens und den maschinell gelernten Mustern.

Der Beitrag analysiert diese besondere Form der Agency auf der Grundlage des Konzepts verteilten Handelns und des graduellen Handlungsbegriffs, die den flachen, auf die Wirkungsdimension des Handelns beschränkten Handlungsbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie um zwei sinnbezogene Handlungsdimensionen (regulativ und intentional) ergänzen (Rammert und Schulz-Schaeffer 2002; Schulz-Schaeffer und Rammert 2023; Schulz-Schaeffer 2023). Er argumentiert, dass der Einbezug dieser Sinndimensionen des Handelns für eine symmetrische Analyse der Agency generativer KI unerlässlich ist.