Veranstaltungsprogramm

Sitzung
Plenum 4: Demokratie in Transition?
Zeit:
Donnerstag, 25.09.2025:
9:00 - 12:00

Chair der Sitzung: Jenni Brichzin, Universität der Bundeswehr München
Chair der Sitzung: Henning de Vries, Philipps-Universität Marburg
Sitzungsthemen:
Meine Vortragssprache ist Deutsch.

Zusammenfassung der Sitzung

Alle Vorträge der Veranstaltung werden auf Deutsch gehalten.


Präsentationen

Gegner und Befürworter des Liberalen Skripts. Ergebnisse einer Umfrage aus 26 Ländern aus verschiedenen Regionen der Welt

Jürgen Gerhards

Institut für Soziologie, Freie Universität Berlin, Deutschland

Als die Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre zusammenbrach, glaubten viele, dass dies der endgültige Sieg des liberalen Gesellschaftmodells sei. Mehr als dreißig Jahre später wissen wir, dass dies eine falsche Prognose war. Liberale Gesellschaften sind in der Defensive und vielfältigen Herausforderungen ausgesetzt. Autoritäre Regime haben sich weiter ausgebreitet und behaupten die Überlegenheit ihres Gesellschaftsmodells. In demokratischen Ländern greifen populistische Parteien die Grundlagen liberaler Gesellschaften an.

Wie aber verhält es sich mit den Einstellungen der Bürger zu den Grundprinzipien liberaler Gesellschaften?

Im Rahmen des an der Freien Universität Berlin lokalisierten Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“ haben wir eine Umfrage in 26 Ländern aus verschiedenen Regionen der Welt durchgeführt und die Einstellungen der Menschen zum sogenannten liberalen Skript erhoben und analysiert. Ein Skript besteht aus Vorstellungen über eine normativ gewünschte Gesellschaftsordnung. Die spezifischen Merkmale eines liberalen Skripts bestehen aus einem Bündel zusammenhängender Werte. Dazu gehören u.a. das Recht auf individuelle Selbstbestimmung und die Gleichwertigkeit aller Menschen, die Unterstützung demokratischer und rechtsstaatliche Prinzipien, die Idee der Meritokratie und die der Toleranz gegenüber Minderheiten.

Zusammen mit Koautoren (Lukas Antoine, Heiko Giebler, Rasmus Ollroge & Michael Zürn) wurden die Ergebnisse unserer Umfrage in Form eines Buchmanuskripts verschriftet. In dem Vortrag werde ich einige der Ergebnisse unserer Analysen präsentieren und Antworten auf folgende Fragen geben: (1) Welches sind die Kernmerkmale des liberalen Skripts und wie haben wir diese empirisch erhoben? (2) In welchen Ländern des Globus findet das liberale Skript die größte Unterstützung und wo die stärkste Gegnerschaft? (3) Welche Gesellschaften sind gespalten und weisen ein hohes Polarisierungsniveau auf und welche sind eher kohärent, sei es liberal oder illiberal kohärent? (4) Mit welchen Theorien und den daraus abgeleiteten Länder- und Individualmerkmalen können wir die Unterschiede in der Unterstützung des liberalen Skripts erklären?



Flexibler Autoritarismus. Die transnationale Bedeutung von Ambition und Loyalität

Anna Schwenck

Universität Siegen, Seminar für Sozialwissenschaften; Freie Universität Berlin, Osteuropainstitut, Abteilung für Soziologie

Handelt es sich bei den international beobachtbaren Transitionen zu autoritären Regierungsmodellen tatsächlich um Reaktionen nationaler Gegenwehr auf Prozesse neoliberaler Globalisierung? Die gängige Erzählung eines Backlash verkennt, dass autoritär Herrschende meist die neoliberalen Politiken — im Sinne einer Verantwortungsverschiebung für Sicherheit und Wohlstand vom Staat hin zum einzelnen Bürger — ihrer demokratischen Vorgänger fortsetzen.

Das im Vortrag vorgeschlagene Konzept des flexiblen Autoritarismus fasst eine Regierungsweise, die neoliberale Techniken und autoritäre Praktiken miteinander verbindet. Sie incentiviert unternehmerisches Könnensbewusstsein und unkonventionelles Denken, während sie Kritik am Status Quo systematisch unterdrückt und Obrigkeitshörigkeit belohnt. Das Attribut “flexibel“ meint also mitnichten, dass man es mit einem weicheren oder weniger moralisch verwerflichen Autoritarismus zu tun habe, sondern verweist auf den Imperativ der Flexibilität im neoliberalen Kapitalismus. Es stellt somit die oftmals aus der Modernisierungstheorie abgeleitete These, dass ökonomische Freiheit persönliche garantiere und dadurch politische Freiheit bedinge, in Frage.

Entgegen der These, dass vor allem Globalisierungsverlierer mit dem Autoritären liebäugeln, zeigt die am Beispiel des heutigen Russlands vorgenommene Analyse transnational kursierender kultureller Unterscheidungen, dass es vor allem auch die (potenziellen) Globalisierungsgewinner sind, die autoritäre Werte und Praktiken begrüßen. Das vermeintliche Innovationspotenzial eines coolen Start-Up Kapitalismus, der von angeblichen Genies getragen würde, rechtfertigt zunehmend autoritäre Praktiken – auch in Staaten, in denen demokratische Verfahren seit langem institutionalisiert sind und breite Zustimmung erfahren.

Ausgehend vom russischen Fall wird gefragt welche Legitimationsgewinne der im schicken Start-Up Gewand daherkommende Musk-Trump Autoritarismus verzeichnen kann, gerade weil Schumpetersche Ideale von Disruption und Genie in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte so wenig problematisiert werden. Die selbstverständliche Valorisierung von „Ambition“ und „Loyalität“ verkennt, dass diese Orientierungen auch Aufstiegsstreben und Gefolgschaftstreue konnotieren, die wohl mit am prominentesten von Hannah Arendt Anfang der 1960er Jahre kritisiert wurden.



Flexible Rassismen in (anti-)demokratischen Verhältnissen

Karin Scherschel

Katholische Universität Eichstätt Ingolstadt, Deutschland

Der sicherheitsbehördliche Umgang mit den Morden des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) und den Morden in Hanau hat gezeigt, dass staatliche Behörden bei der Verfolgung dieser rassistischen Gewaltverbrechen ihrem demokratischen Auftrag nicht gerecht wurden und in Teilen selbst aktiv an der Dethematisierung rassistischer Praktiken beteiligt waren. Soziologisch wird die Zunahme öffentlich zutage tretender rassistischer Phänomene als ein Aspekt der Gefährdung moderner Demokratien diskutiert. Es wird die Frage aufgeworfen, wie es kommen kann, dass längst überwunden geglaubte Rassismen diese neue Relevanz gewinnen können, und wie rassistische Vorstellungen in demokratisch verfassten Gesellschaften verankert sind.

Der Beitrag argumentiert auf Basis eigener empirischer Studien und theoretisch-konzeptueller Überlegungen, dass rassistische Deutungen und Kommunikationen nie einfach überwunden waren, sondern in bestimmten Formen – als flexible Ressourcen – symbolisch präsent bleiben und strukturell an die moderne demokratische Form der Organisation von Mitgliedschaft in der Gesellschaft (citizenship) ´andocken´ können. Ein wesentliches Ziel des Beitrages ist es, die Flexibilität rassistischer Erscheinungen genauer zu verstehen und theoretisch und empirisch zu systematisieren. Flexibel sind rassistische Phänomene nicht nur, weil sie sich lebensweltlich in Alltagkommunikationen „anpassen“ können oder, wie am Beispiel sozioprofessioneller Kontexte gezeigt werden kann, gesellschaftliche Kritiken antizipieren, sondern auch, weil sie mit nicht-rassistischen Strukturen, die funktional äquivalent sind, koexistieren können.

Der Beitrag stellt einen theoretisch-konzeptionellen Zugang zum Verständnis rassistischer Phänomene vor und demonstriert ihn an empirischen Fällen. Es werden Analysen zu symbolischer Macht (Pierre Bourdieu), Un/Doing Differences (Stefan Hirschauer) und aus dem Feld der Citizenship Studies (Lydia Morris) sowie der Rassismusforschung (Stuart Hall) genutzt, um die Flexibilität rassistischer Phänomene in demokratischen Verhältnissen soziologisch zu analysieren.



Against Transition. Demokratiearbeit in feindlichem Umfeld

Alexander Leistner1, Thomas Hoebel2,3

1Universität Leipzig, Deutschland; 2Universität Bielefeld, Deutschland; 3Hamburger Institut für Sozialforschung, Deutschland

Wie engagieren sich Menschen in ihren lokalen Umfeldern gegen eine Transition ins Autoritäre? Unter welchen Voraussetzungen gestalten sie dieses Engagement? – Ein Drift ins Autoritäre ist vielerorts längst Alltag, Und eine vermeintliche demokratische Mitte erweist sich als Phantasma. Unser Blick richtet sich dabei auf Mittel- und Kleinstädte sowie auf ländliche Landstriche. Demokratiearbeit findet hier oftmals längst in feindlichen Umfeldern statt. Die teils offene, teils latent bleibende Feindlichkeit, von denen die Engagierten berichten können, ist ein bedeutsamer Marker, wie fragil demokratische Verhältnisse vor Ort sind.

„Democracy no longer ends with a bang“, haben Steven Levitsky und Daniel Ziblatt plakativ, aber in realistischer Absicht formuliert. Wir stimmen zu. In unseren Ethnografien gewinnen wir einen Eindruck davon, dass sie womöglich auf lokaler Ebene zu sterben beginnen bzw. dort sich längst andere politische Normalitäten etabliert haben, die Demokratiearbeit als abweichendes Verhalten einer Minderheit adressieren. Daher argumentieren wir erstens dafür, sich mit dieser Frage stärker als bisher üblich auf kleinräumlicher Ebene zu befassen.

Zugleich gibt es diejenigen, die sich um ihre lokalen demokratischen Verhältnisse zu kümmern bereit sind: against transition – und das nicht selten in einem angespannten Verhältnis zu kommunalen Parlamenten und Honoratior:innen. Die Demokratiearbeiter:innen, die uns begegnen, schaffen Begegnungsorte, veranstalten Straßenfeste, sorgen für einen pluralen Lokaljournalismus, schaffen offene Türen u.v.m., um sich mit der inhaltlichen Kreativität und den organisatorischen Kapazitäten, die sie mobilisieren können, gegen einen lokal um sich greifenden Autoritarismus zu stemmen. Daher argumentieren wir zweitens, dass sich die Transitionsfrage des Demokratischen insbesondere als Frage stellt, wie die Orte der Demokratiearbeit konkret gestaltet sind. Wir sprechen dafür annäherungsweise von democracy spots – und möchten vor allem auf eine konstitutive Ambivalenz eingehen: die Errungenschaften dieser für gewöhnlich selbstorganisiert geschaffenen Orte sind zugleich die Charakteristika, die Gegner:innen als starke Signale auffassen, diese spots zu bekämpfen. Die Frage der Voraussetzungen stellt sich so insbesondere als Frage, trotz oder wegen dieser Ambivalenz Demokratiearbeit zu leisten. Nicht alle schaffen das.