Autorität und Distanz – Soziologische Aufklärung in/ der Gesellschaft zwischen Regression und Differenzierung
Joachim Renn
UNiversität Münster, Deutschland
Was einmal spezifisch soziologische „Aufklärung“ war, hat sich innerhalb der Disziplin in den letzten Jahrzehnten aufgrund der sehr spezifischen pragmatischen Valenz soziologischen Wissens und der gewandelten Lagerung in der Gesellschaft verändert. Soziologische Aufklärung wurde nach steuerungsoptimistischen Zeiten und emanzipatorischer Sozialreform „entzaubert“, und diese Entzauberung ist selbst ein Stück Aufklärung, denn der Anspruch des Faches auf gesellschaftliche Alimentierung und Resonanz berief sich auf die vermeintliche sozialtechnologische Steuerungstauglichkeit soziologischen Wissen, am Rande alternativ auf die eigene Potenz, gesellschaftliche Lernprozesse auszulösen. Die sozialtechnologische Legitimation zeigte sich in der Folge dominant - auch das ein Reflex erstarkter autoritärer Steuerungsvorstellungen, aber diese Legitimation sicherte das Fach nur äußerlich ab um den Preis der Bereitschaft zu einer Entdifferenzierung, zu einem Autonomieverzicht, der durch den besonderen Gegenstand des Faches, nämlich seine gesellschaftliche Umwelt spezifisch ausfällt: In der Umwelt der Soziologie haben mit dem Bedeutungsverlust der „sozialdemokratischen“ Epoche der Demokratisierung Kriterien der „Markttauglichkeit“ die Relevanz der Emanzipation deutlich überholt, und das Fach Soziologie muss zunehmend seine Akzeptanz (das epistemische Vertrauen) durch Übernahme von disziplin-externen Problemdefinitionen, Geltungs- wie Verständlichkeitskriterien und Nutzen-Imperativen aus der Umwelt des Fachs erkaufen. Das hindert die Soziologie anders als andere Fächer sowohl daran, zur Reife einer „normal science“ im Sinne Kuhns, d.h. mit eigenem Vokabular und dem gesicherten Mandat zur autonomen Bestimmung der fachkonstitutiven Probleme und Gegenstände heran zu reifen, als auch daran, Kritische Theorie und Analyse der Gesellschaft im Horizont emanzipatorischer Welterschließung zu werden. Soziologische Aufklärung hat sich u.a. deshalb entlang der Scheidelinie einer Reflexion auf das Fach im Fach, die den performativen Charakter der Sozialwissenschaften als normative Frage anerkennt (Habermas 1971), schismogenetisch auf miteinander unverträgliche Teilzuständigkeiten verteilt. Sie spaltet sich, und es laufen nebeneinander 1) der Mainstream eines breiten „Immer-Weiter so“-Positivismus, der „wertneutral“ Fakten erzeugt, um sie in der Umwelt des Wissenschaftssystems gegen Alimentierung zu tauschen, und 2) eine zur Weltanschauungsphilosophie regredierte Kritik, die Konkretion mit nur partikularer Geltungs-Reichweite vergelten muss. Der Vortrag wird auf der Grundlage der oben skizzierten Rekonstruktion der Situiertheit des Faches Elemente einer differenzierungstheoretischen Legitimation soziologischer Aufklärung skizzieren. Zentral ist dabei im Kontrast zu (verständlichen) Sehnsüchten nach Direktwirkung soziologischer Kritik des Autoritären, das Motiv einer Wahrung der Distanz. Die Bindung eines gesellschaftskritischen und antiautoritären Einspruchs der soziologischen Aufklärung an die moralische Dignität der Anliegen je spezifischer sozialer Bewegungen muss ungenügend bleiben, geltungsbezogen: desaströs, weil standpunktgebunden. Entsprechende zeitdiagnostisch auftretende Regressionen haben systematische und historische, also epistemische wie gesellschaftliche Ursachen: Eine reflektierte, die Kontingenz des Beobachtens verarbeitende, Kritik an „der“ Gesellschaft kann nicht anders vorgehen, als sich durch eine paradoxe Referenz auf das Ganze der Gesellschaft deskriptiv abzusichern. Diese Absicherung kann aber nicht mehr ohne Beschädigung der eigenen epistemischen Autorität „ideologiekritisch“ operieren.
Die soziologische Aufklärung über das Problematische an gesellschaftlichen Autoritäten kann ihre eigene und eigentümliche Autorität, die Rechtfertigung epistemischen Vertrauens gegenüber externen Perspektiven, unter solchen Bedingungen nur als ausdifferenzierte Kommunikationsweise, als vom Rest gesellschaftlicher Kommunikation teilentkoppelte, dadurch eigensinnige sprachliche Welterschließung entfalten, nicht aber als ubiquitär anschlussfähige Zeitdiagnose mit Empörungsdrang. Der Vortrag schließt mit Hinweisen auf Bedingungen und Elemente einer differenzierungstheoretischen Revision ehedem „Kritischer Theorie“.
Positivistische, manichäistische und intellektualistische Verführungen: Soziologische Reaktionen auf die Krise der Faktizität
David Kaldewey
Universität Bonn, Deutschland
Die Idee der Soziologie als Krisenwissenschaft ist so alt, wie die Disziplin selbst. Auch die Krisen des 21. Jahrhunderts – die Klimakrise, die Finanzkrise, die Corona-Krise, das globale Erstarken autoritärer politischer Bewegungen, etc. – haben jeweils umfassende Reflexionen über die Rolle der Soziologie für die Analyse und Bearbeitung der entsprechenden Probleme ausgelöst. Das Stichwort der „Polykrise“ wiederum verweist auf die Vermutung, dass das Signum des Zeitalters im Zusammenspiel einer Multiplizität von Krisen liegen könnte. Ein Sonderfall in diesem Reigen der Krisen sind Variationen einer Diagnose, die im Englischen seit 2016 mit dem Begriff „post-truth“ umrissen wird. In der deutschen Debatte verweist ist unter anderem von einer „Krise der Faktizität“ die Rede, in der die Möglichkeit des rationalen Argumentierens in einer und über eine gemeinsame Wirklichkeit fraglich geworden ist. Dabei spielt die Infragestellung wissenschaftlicher „Fakten“ eine besondere Rolle, wobei im öffentlichen Diskurs selten thematisiert wird, ob und inwieweit Krisendiagnosen sinnvoll auf wissenschaftliche Fakten reduziert werden können.
Ein Spezifikum der Krise der Faktizität liegt darin, dass diese mehr darstellt als ein weiteres „item“ auf der Liste von Krisen. Sie steht vielmehr für eine querliegende Problematik und kann deshalb auch als „Meta-Krise“ beschrieben werden. So wirken Phänomene wie Wissenschaftsskepsis, Desinformation oder epistemischer Populismus jeweils in die „Einzelkrisen“ hinein und verändern deren Deutung und Wahrnehmung – wie idealtypisch bei der Klimakrise oder bei der COVID-19-Pandemie beobachtet werden konnte. Eben dieser die gesellschaftliche Krisenkommunikation selbst betreffende Meta-Charakter macht die Krise der Faktizität zu einer besonderen Herausforderung für Soziologie. Vor diesem Hintergrund stellt der Vortrag die Frage, wie die Soziologie als Disziplin diese spezifische Krise deutet und welche Vorschläge zur Lösung postfaktischer Kommunikationsprobleme aus dem Fach heraus vorgeschlagen werden.
Der Vortrag unterscheidet zwei historische Phasen der Krise der Faktizität: die erste Phase beginnt 2016 mit Ereignissen wie der Wahl Trumps sowie dem Brexit und führt zu umfassenden Debatten über „postfaktische Politik“. In dieser Phase war es vor allem die politische Soziologie, die die Krise beobachtete. Die zweite Phase beginnt 2020 mit der COVID-19-Pandemie, hier wurde die Konstellation von Wissenschaft, Politik und Gesundheitssystem neu sortiert und es war zunächst offen, welche Bindestrich-Soziologien und welche soziologischen Beiträge in Politik und Medien relevant werden sollten. Ob die erneute Wahl von Trump 2024 eine eigenständige dritte Phase der Krise der Faktizität markiert, kann zum Zeitpunkt der Konzeption des Vortrages noch nicht beurteilt werden.
Der empirische Schwerpunkt des Vortrages liegt auf der zweiten Phase. Mit Bezug auf ein laufendes wissenschaftssoziologisches Forschungsprojekt wird die pandemiebezogene öffentliche Kommunikation der (deutschsprachigen) Soziologie in den Jahren 2020-2021 (24 Monate) ausgewertet und mit der Forschungstätigkeit zum gleichen Themenfeld in den Jahren 2020-2023 (48 Monate) verglichen. Dabei zeigt sich, dass die in der akuten Krise sichtbaren und medial auf Resonanz stoßenden Soziolog*innen nicht diejenigen waren, die nachweisbar empirisch über pandemiebezogene Fragen forschten – oder ausgehend von der Krise entsprechende Forschungsprojekte angestoßen haben. Umgekehrt zeigt sich, dass die empirisch einschlägigen Soziolog*innen (operationalisiert über die in Publikationen nachweisbare „contributory expertise“) wenig mediale Sichtbarkeit hatten. Diese Auswertung wirft die Frage auf, ob und inwiefern die Soziologie in der öffentlichen Thematisierung gesellschaftlicher Krisen auf eigene Faktenproduktion setzt – und wenn nicht, auf was stattdessen.
Ausgehend von diesem Dilemma und mit Hilfe einer qualitativen Auswertung der Daten zur öffentlichen soziologischen Kommunikation während der Corona-Pandemie rekonstruiert der Vortrag abschließend Fallstricke der soziologischen Krisenkommunikation. Im Versuch, der politisch-gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden und „vereint“ gegen die Krise der Faktizität Stellung zu beziehen, lassen sich drei problematische Kommunikationsstrategien unterscheiden: Erstens die positivistische Verführung, die glaubt, die wissenschaftlichen Fakten für sich sprechen lassen zu können, zweitens die manichäistische Verführung, die durch die schematische Operationalisierung von Sozialfiguren wie dem „Wissenschaftsleugner“ oder dem „Verschwörungstheoretiker“ eine binär strukturierte soziale Welt evoziert, und drittens die intellektualistische Verführung, die angesichts des medialen Erfolgs prominenter Soziolog*innen den Bezug zur themenspezifischen empirischen Expertise verliert.
Die (Un-)Möglichkeit globaler Soziologie
Anja Weiß
Universität Duisburg-Essen, Deutschland
Die im Call skizzierten Widersprüche zwischen der Instrumentalisierung sozialwissenschaftlicher „Fakten“ und Deutungen auf der einen Seite und grundsätzlichen Zweifeln an wissenschaftlicher Autorität auf der anderen werden in diesem Vortrag auf die (Un-)Möglichkeit einer Globalen Soziologie sozialer Ungleichheiten bezogen. Soziologische Ungleichheitsanalysen adressieren meist Öffentlichkeiten im Staat. Für grenzüberschreitende Fragen ist die Ökonomie zu der Autorität geworden, die „Fakten“ so produziert, dass sie politisch aufgegriffen werden können. Beiden Richtungen steht die postkoloniale Kritik gegenüber, die die Möglichkeit autoritativen Wissens bestreitet, die durch ihr „Sprechen-für -Andere“ aber selbst ein paradoxes Verhältnis zum autoritativen Sprechen aufweist. In der Soziologie liegen Ansätze für eine globale Soziologie vor, die jedoch zwischen der ökonomischen Orthodoxie und der postkolonialen Avantgarde des wissenschaftlichen Feldes globaler Ungleichheitsanalysen zerrieben werden. Vor diesem Hintergrund plädiert der Vortrag dafür, sich auf die reflexiv herrschaftskritischen Wurzeln des Faches zurückzubesinnen und diese zu einer globalen Soziologie weiterzuentwickeln, die Öffentlichkeiten auch jenseits des eigenen Landes adressiert.
Das Spannungsverhältnis zwischen Instrumentalisierung und Autorität von Soziologie wird im Vortrag mit Bourdieus doppeltem Bruch reformuliert. Bourdieu unterstreicht, dass Sozialwissenschaft nicht dadurch kritisch wird, dass sie selbst politische Positionen einnimmt, sondern indem sie rekonstruiert, wie die soziale Welt so geworden ist, wie sie ist, was impliziert, dass die Dinge anders sein könnten. Bourdieu fordert im „ersten Bruch“ ein Überwinden des Alltagsverstandes, der für Ungleichheitsforschung als Bruch mit dem Subjektivismus und dem Objektivismus konkretisiert wird. Beim zweiten Bruch geht es um den Bruch mit der je eigenen wissenschaftlichen Tradition.
Beide Brüche sind zwingend miteinander verbunden, denn der erste Bruch allein würde den Wunsch von Öffentlichkeit nach wissenschaftlicher Autorität befriedigen, während der zweite für sich genommen jegliches Wissen als gleichermaßen relativ erscheinen ließe. Bourdieu zielt auf eine Sozialwissenschaft, die die Reflexion des eigenen Standpunkts und die historische Genese des eigenen Wissens nutzt, um mit dem Alltagsverstand zu brechen (und umgekehrt).
Bezogen auf das Problem globaler Ungleichheiten fällt zunächst auf, dass klassische Studien (z.B. Marienthalstudie, Frankfurter Autoritarismusforschung), politische Orientierungen nicht als solche untersuchten, sondern sie im Sinne des ersten Bruchs auf Positionen in der Sozialstruktur bezogen. Ihre Überlegungen waren und sind jedoch auf das Innere von mittlerweile post-industriellen Gesellschaften fokussiert. Die Chance eines zweiten Bruchs liegt darin, mit dieser Tradition zu brechen. Eine globale Sozialstrukturanalyse sollte neben Klasse auch Zugangschancen (u.a. race) zu einer Mehrzahl nationaler und transnationaler Kontexte berücksichtigen.
Die globale Perspektive eröffnet im Sinne des zweiten Bruchs neue Perspektiven für Soziologie und Öffentlichkeit gleichermaßen. Soziologieintern erscheint die Auflösung einer klar erkennbaren Sozialstruktur, das „Jenseits von Klasse und Stand“ (Beck) der 1980er Jahre auch dadurch erklärbar, dass die entscheidenden Konfliktlinien dieser Welt nicht mehr innerhalb von Staaten, sondern zwischen Zentrum und Peripherie des kapitalistischen Weltsystems verlaufen. Ein System, in dem sich alle Bürger:innen reicher nationaler Wohlfahrtsstaaten durch ungleichen Tausch mit der Peripherie Mehrwert aneignen, wird durch abgestufte Staatsbürgerschaftsrechte und Rassismus stabilisiert. Hier ist die öffentliche Debatte im Norden weiter als die soziologische Diskussion, denn das kollektive Interesse an Migration(-sbegrenzung) zielt auf die Stabilisierung nördlicher Hegemonie; allerdings verkennen nördliche Öffentlichkeiten zugleich, in welchem Ausmaß der eigene Reichtum auf Migration beruht.
Bourdieus doppelter Bruch unterstreicht die Autonomie von Sozialwissenschaft gegenüber Politik. Das mag angesichts von Autoritarismus und Gewalt kontraintuitiv erscheinen, denn womöglich benötigt Wissenschaft mehr Autorität und nicht mehr Reflexion? Im Vortrag soll dennoch die These vertreten werden, dass die Stärke der Soziologie darin liegt, wie gut der doppelte Bruch gelingt. Doppelt ist der Bruch dann, wenn er (Selbst-)Reflexion mit – hoffentlich neuen – Ergebnissen verbindet. Ein konkreter Vorschlag hierzu wird im Vortrag anhand eines geplanten Forschungsprojekts zur Globalen Sozialstrukturanalyse zur Diskussion gestellt.
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