Eine Übersicht aller Sessions/Sitzungen dieser Veranstaltung. Bitte wählen Sie einen Ort oder ein Datum aus, um nur die betreffenden Sitzungen anzuzeigen. Wählen Sie eine Sitzung aus, um zur Detailanzeige zu gelangen.
Leitung der Sitzung: Prof. Dr. Stephan Grohs, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften
Zusammenfassung der Sitzung
Politische Macht und evidenzbasierte Politik (Holger Bähr, Dieter Filsinger)
Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass eine Evaluation und die daraus resultierende Politikberatung evidenzbasiert sein sollen, d.h. sie sollen auf empirischen Daten beruhen und daraus methodisch kontrolliert Schlussfolgerungen ziehen, wenn möglich über Zusammenhänge von Ursache und Wirkung. Darüber hinaus besteht die Erwartung, dass die Politik selbst evidenzbasiert sein soll, wie es die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina oder der Verein für Socialpolitik fordern. Inwiefern kann Politik evidenzbasiert sein und welche Rolle kann dabei einer evidenzbasierten Evaluation und Beratung zukommen? Dieser Frage gehen wir auf der Basis von Theorien über den politischen Prozess nach und erläutern die Argumentation anhand empirischer Beispiele.
Das Streben nach Macht, verbunden mit der Durchsetzung von Interessen und Wertvorstellungen, kennzeichnet den politischen Prozess und steht in einer Wechselbeziehung mit dem Lösen gesellschaftlicher Probleme, wie zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausgearbeitet haben. Macht ermöglicht die Umsetzung von Lösungen und umgekehrt tragen als Lösung wahrgenommene Programme zur Erlangung und zum Erhalt von Macht bei. Politische Macht ist dabei sowohl zielgerichtet, „den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen“ (Max Weber), als auch selbstbezüglich, „sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ (Hannah Arendt). Beide Formen der Macht können als komplementär betrachtet werden.
Bei einer evidenzbasierten Politik geht es in erster Linie darum, wie effektiv und effizient Maßnahmen sind, mit denen ein politisches Ziel erreicht werden soll. Das Ziel selbst ist Gegenstand widerstreitender Interessen und Wertvorstellungen, die sich allerdings auch auf die Maßnahmen als Mittel der Zielerreichung erstrecken. Innerhalb der so gesetzten Grenzen kann eine evidenzbasierte Politik zur Legitimation von Entscheidungen und zur Aufklärung über Zusammenhänge beitragen. Eine evidenzbasierte Evaluation und Politikberatung stellt das hierfür relevante Wissen bereit und erhöht damit sowohl die zielgerichtete Macht politischer Akteure gegenüber Konkurrenten als auch die selbstbezügliche Macht im Zusammenspiel mit den Bürgerinnen und Bürgern. Evidenzbasierte Evaluation und Politikberatung kann zu evidenzbasierter Politik führen, allerdings, so die These dieses Beitrags, (nur) bei einem Teil politischer Entscheidungen und vermittelt über die Macht der politischen Akteure.
Modellhafte Erprobung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) – Testen von Regelungen als vorgesetzlicher Prozess (René Ruschmeier, Nikola Ornig, Lara Ebert)
Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen - Bundesteilhabegesetz (BTHG)“ wurde eine mehrstufige Reform des Sozial- und Rehabilitationsrechts eingeleitet. Durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wurden 31 Modellprojekte ausgewählt, deren Aufgabe es ist, „die materiell-rechtliche Anwendung der künftigen Vorschriften und ihre praktischen Auswirkungen noch vor dem Inkrafttreten […] modellhaft […] zu erproben.“ Diese sollen einen „repräsentativen Fallbestand“ aus ihrem Zuständigkeitsbereich spiegelbildlich bereits nach den Vorschriften des künftigen Rechts („virtuell") in sieben Regelungsbereichen des BTHG bearbeiten.
Zur Evaluation der Erprobung wurden, zusammen mit den Modellprojekten, Datensätze ausgewählt, deren Fallbearbeitung jeweils nach altem und neuem Recht erfolgte. Beide Ergebnisse wurden vergleichend betrachtet und daraus Schwierigkeiten in der Umsetzung, der Rechtsanwendung und -auslegung sowie der Praxis der Leistungserbringung identifiziert.
Zentrale Fragestellungen des Beitrags
Mit dem Tagungsbeitrag werden wir die grundsätzlichen Anforderungen an die Geeignetheit einer modellhaften Erprobung für gesetzgeberische Verfahren zur Diskussion stellen, sowie grundsätzliche Learnings für Evaluationen aus dem Projektbeispiel reflektieren. Wir gliedern den Beitrag wie folgt:
Ziele und grundsätzliches Vorgehen einer virtuellen Vorab-Erprobung von Gesetzen
Gelingensbedingungen in der Planungsphase
Erfolgsfaktoren im Zusammenspiel mit
dem politischen Willensbildungsprozess
der administrativen Umsetzungsplanung im föderalen Kontext
Entscheidungskriterien für den Einsatz des Instruments:
Geeignetheit
Zweckmäßigkeit
Wirtschaftlichkeit
Politische Rahmenbedingungen
Die rückblickende Darstellung und Bewertung des Projektes wird zeigen, dass Erfolgsfaktoren und Gelingensbedingungen äußerst anspruchsvoll sind, bei gleichzeitigem hohen Ergebniswert einer methodisch qualitativen Erprobung. Insbesondere das Zusammenspiel mit den politischen Willensbildungsprozessen und administrativen Umsetzungsplanungen in mehrstufigen föderalen Strukturen führt zu inhaltlichen und zeitlichen Erwartungskonflikten. Das Projektbeispiel soll genutzt werden, um Wege zur Ausbalancierung derartiger Konflikte im Sinne einer evidenzbasierten Politikgestaltung aufzuzeigen.
Evidenzbasierter Justizvollzug? Evaluationen zwischen Gesetzen, Politik, Wissenschaft und Praxis (Sven Hartenstein)
In den nach der Föderalismusreform im Jahr 2006 verabschiedeten (Jugend-) Strafvollzugsgesetzen der Bundesländer werden der Anspruch einer evidenzbasierten Vollzugsgestaltung und die Absicht, dieser durch Forschung im Justizvollzug näher zu kommen, formuliert. In den meisten Bundesländern wurden Kriminologische Dienste eingerichtet, die beispielsweise „den Jugendstrafvollzug“ und/oder einzelne Behandlungsmaßnahmen evaluieren. Dabei ist das Ziel oft nur abstrakt formuliert („wissenschaftliche Begleitung“, „Wirksamkeit der Maßnahmen“) und Evaluationsaufträge sind teilweise nicht befristet, wodurch die Kriminologischen Dienste in der Verantwortung stehen, den eigenen Auftrag zu konkretisieren. Stärker als in vielen anderen sozialen Bereichen konkurrieren verschiedene Interventionsfelder (beispielsweise Ausbildung, psychologische Intervention, soziale Hilfe oder Suchthilfe) als potentielle und individuell verschieden relevante Wirkfaktoren für das Vollzugsziel „Resozialisierung“. Der Justizvollzug ist zudem stark durch Gesetze, politische Interessen, kriminologische Theorien, begrenzte Ressourcen der Praxis und einen anspruchsvollen gesellschaftlichen Auftrag geprägt. In diesem Beitrag soll reflektiert werden, wie Evaluationen in einem solchen Spannungsfeld gewinnbringend für eine evidenzbasiertere Praxis sozialer Interventionen durchgeführt werden können. Dabei wird anhand von Beispielen diskutiert, welche Fragestellungen – bei in der Regel fehlender Möglichkeit, durch randomisierte Experimente Kausalität festzustellen – die Entscheidungsrelevanz von Ergebnissen für Entscheider*innen erhöhen, welche Verantwortung Evaluator*innen für die Nutzung der Ergebnisse übernehmen sollten, wie bei der Datenerhebung die Ressourcen der Praxis sparsam genutzt werden und welchen Nutzen für die Organisationsentwicklung Evaluation auch jenseits der Verwendung ihrer Ergebnisse durch die Politik haben kann.
Präsentationen
Politische Macht und evidenzbasierte Politik
Holger Bähr1, Dieter Filsinger2
1Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung; 2Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes
Modellhafte Erprobung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) – Testen von Regelungen als vorgesetzlicher Prozess
René Ruschmeier, Nikola Ornig, Lara Ebert
Kienbaum Consultants International GmbH, Deutschland
Evidenzbasierter Justizvollzug? Evaluationen zwischen Gesetzen, Politik, Wissenschaft und Praxis